Anne in Kingsport
Vertrautheit aus Schuldmädchentagen gab es noch immer und Anne spürte es deutlich an dem heftigen Schmerz, den ihr die Nachricht versetzte. Ruby, die strahlende, fröhliche, kokette Ruby! Man konnte mit ihr unmöglich den Gedanken an Tod verbinden. Sie hatte Anne nach der Kirche herzlich begrüßt und sie bedrängt, sie doch am nächsten Tag zu besuchen.
»Dienstag und Mittwoch Abend bin ich nicht da«, hatte sie freudig geflüstert. »Da gehe ich zu einem Konzert in Carmody und einer Party in White Sands. Herb Spencer holt mich ab, er ist meine erste Eroberung. Komm doch ganz bestimmt morgen Abend. Ich möchte mich so gern einmal wieder richtig mit dir unterhalten. Du musst mir unbedingt berichten, wie es dir am Redmond so ergeht.«
Anne war klar, dass Ruby ihr nur alles Neue von ihren jüngsten Flirts erzählen wollte, aber sie versprach trotzdem zu kommen, und Diana bot an, mitzugehen.
»Ich wollte Ruby sowieso seit langem einmal besuchen«, sagte sie zu Anne, als sie am nächsten Nachmittag von Green Gables aufbrachen. »Aber allein konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen. Es ist furchtbar, mit anzusehen, wie Ruby betont fröhlich daherschwatzt und so tut, als wäre nichts, selbst wenn sie vor lauter Husten kaum ein Wort herausbringt. Sie kämpft um ihr Leben, aber sie hat keine Chance, das jedenfalls sagen die Leute.«
Die Mädchen gingen schweigend die im Dämmerlicht liegende Straße entlang. In den Baumwipfeln sangen die Vögel, die ersten Frösche quakten unten in den Sümpfen, und auf den Feldern wagte sich zaghaft die junge Saat hervor.
»Was für ein schöner Sonnenuntergang«, sagte Diana.
»Ach, ich kann mich gar nicht darüber freuen«, murmelte Anne gedankenverloren. »Seit ich das von Ruby gehört habe, bin ich richtig deprimiert.«
»Du hast doch nichts dagegen, wenn wir kurz bei Elisha Wright vorbeischauen, oder?«, fragte Diana. »Mutter hat mich gebeten, dies kleine Glas Marmelade Tante Atossa zu bringen.«
»Wer ist Tante Atossa?«
»Oh, hat man dir das nicht erzählt? Das ist Mrs Samson Coates aus Spencervale - Mrs Elisha Wrights Tante. Sie ist auch die Tante von meinem Vater. Ihr Mann ist letzten Winter gestorben und hat sie mittellos zurückgelassen, also haben die Wrights sie bei sich aufgenommen. Mutter wollte sie eigentlich zu uns holen, aber Vater war entschieden dagegen. Mit Tante Atossa unter einem Dach leben, das wollte er nicht.«
»Ist sie denn so schrecklich?«, fragte Anne abwesend.
»Du wirst es schneller erleben, als wir verduften könnten«, sagte Diana viel sagend.
Tante Atossa entkeimte in der wrightschen Küche gerade Kartoffeln. Sie trug eine verblichene alte Kittelschürze und ihr graues Haar war ganz zerzaust. Da sie es nicht leiden konnte, in »so unordentlicher Aufmachung« überrascht zu werden, strengte sie sich besonders an und war nicht ganz so eklig wie sonst.
»Oh, dann bist du also Anne Shirley?«, sagte sie, als Diana Anne vorstellte. »Man hat mir schon von dir erzählt.« Ihr Tonfall besagte, dass es nichts Gutes gewesen sein konnte. »Mrs Andrews erzählte mir, dass du wieder zu Hause wärst. Sie meinte, du hättest beachtliche Fortschritte gemacht.«
Ohne Zweifel fand Tante Atossa, dass da noch genügend Möglichkeiten für weitere Verbesserungen blieben. Sie entkeimte weiter energisch Kartoffeln.
»Hat es groß Sinn, euch zu fragen, ob ihr euch setzen wollt?«, fragte sie bissig. »Bestimmt findet ihr es hier nicht sehr unterhaltsam. Die anderen sind nämlich alle weg.«
»Mutter schickt dir dies kleine Glas mit Rhabarbermarmelade«, sagte Diana vergnügt. »Sie hat sie erst heute gemacht und dachte, sie würde dir vielleicht schmecken.«
»Oh, danke«, sagte Tante Atossa säuerlich. »Die Marmelade von deiner Mutter hat mir noch nie besonders geschmeckt -sie macht sie immer viel zu süß. Aber ich werde sie schon hinunterbekommen. Dies Frühjahr habe ich gar keinen rechten Appetit. Es geht mir gar nicht gut«, fuhr Tante Atossa ernst fort, »aber noch halte ich mich auf den Beinen. Leute, die nicht arbeiten können, sind hier nicht gern gesehen. Wenn es dir nicht allzu viel ausmacht - könntest du dich bequemen und die Marmelade in die Speisekammer stellen? Ich muss mich ranhalten, dass ich mit den Kartoffeln heute noch fertig werde. Ihr zwei Lämmchen macht ja wohl nie solche Arbeiten. Ihr würdet euch ja sonst womöglich die Hände ruinieren.«
»Bevor ich auf die Farm kam, musste ich oft Kartoffeln entkeimen«, widersprach Anne
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