Anne in Kingsport
Aufhänger. Das halten, glaube ich, auch die Herausgeber für das Wichtigste. Bislang bin ich mir nur über den Namen der Hauptfigur im Klaren. Averil Lester soll sie heißen. Hübsch, nicht? Du darfst es aber niemandem erzählen, Diana. Bis jetzt wissen es nur du und Mr Harrison. Der hat mir nicht gerade Mut gemacht - er meinte, heutzutage würde ohnehin schon viel zu viel Schund geschrieben, und von mir hätte er doch etwas mehr erwartet, nach einem Jahr auf dem College.«
»Was versteht Mr Harrison schon davon?«, sagte Diana verächtlich.
Das Haus der Gillis’ war festlich beleuchtet und voller Leute, als sie dort ankamen. Leonard Kimball aus Spencervale und Morgan Bell aus Carmody saßen in der Wohnstube und beäugten einander quer durchs Zimmer. Mehrere fröhliche Mädchen schwatzten in einer Ecke durcheinander. Ruby trug ein weißes Kleid und ihre Augen und Wangen strahlten. Sie lachte und erzählte ununterbrochen, und als die anderen Mädchen gegangen waren, nahm sie Anne mit nach oben, um ihr ein neues Sommerkleid zu zeigen.
»Ich muss noch das blaue Seidene herrichten, aber als Sommerkleid ist es ein bisschen zu schwer. Ich werde es bis zum Herbst liegen lassen. Ich will dann nämlich in White Sands unterrichten. Wie findest du meinen Hut? Der, den du gestern in der Kirche aufhattest, war wirklich schick. Aber mir stehen hellere besser. Hast du dir die zwei albernen Jungen angesehen? Sie probieren, wer von beiden es länger aushält und als Letzter geht. Dabei mache ich mir aus keinem von beiden etwas. Ich mag Herb Spencer. Manchmal denke ich, er ist wirklich der Richtige. Weihnachten hielt ich noch den Lehrer von Spencervale für den einzig Wahren, aber er hatte ein paar Angewohnheiten, die ich auf die Dauer nicht aushielt. Er wäre fast durchgedreht, als ich mit ihm Schluss machte. Ich wünschte, die zwei Jungen wären nicht heute gekommen. Ich wollte mich so richtig mit dir unterhalten, Anne, und dir schrecklich viel erzählen. Du und ich, wir haben uns immer prächtig verstanden, nicht wahr?«
Ruby legte Anne mit einem leeren Lachen den Arm um die Taille. Doch ganz kurz trafen sich dabei ihre Blicke und hinter Rubys Strahlen entdeckte Anne etwas, das ihr das Herz schwer machte.
»Komm mich oft besuchen, ja, Anne?«, flüsterte Ruby. »Komm allein - das wäre am schönsten.«
»Geht es dir ganz richtig gut, Ruby?«
»Mir? Aber ja, es geht mir prima. Es ist mir noch nie besser gegangen. Sicher, diese Krankheit letzten Winter hat mich etwas mitgenommen. Aber sieh mich doch an, ich sehe nun wirklich nicht krank aus.«
Bei diesem letzten Satz klang Rubys Stimme fast scharf. Sie zog ihren Arm weg, als wäre sie leicht verärgert, und rannte nach unten, wo sie sich gezwungen fröhlich gab. Sie war so damit beschäftigt, mit ihren zwei Verehrern zu scherzen, dass Anne und Diana sich ziemlich überflüssig vorkamen und sich bald auf den Heimweg machten.
12 - Averils Versöhnung
»Woran denkst du gerade, Anne?«
Die zwei Mädchen schlenderten eines Abends am Bach entlang. Farn schwankte leicht hin und her und die Zweige wilder Birnbäume hingen herrlich duftend herab.
Anne wachte mit einem glücklichen Seufzer aus ihren Träumen auf.
»Ich habe meine Geschichte zu Ende überlegt, Diana.«
»Hast du tatsächlich schon damit angefangen?«, rief Diana sofort ganz gespannt.
»Ja, ich habe zwar erst ein paar Seiten geschrieben, aber ich habe mir sie schon so ziemlich bis zu Ende ausgedacht. Es hat furchtbar lange gebraucht, bis ich den passenden Anfang hatte. Die ersten Einfälle passten alle nicht zu einem Mädchen mit dem Namen Averil.«
»Hättest du denn nicht den Namen ändern können?«
»Nein, ausgeschlossen. Ich habe es probiert, aber es ging nicht, so wenig wie ich dir einen anderen Namen geben könnte. Averil kam mir so wirklich vor, dass ich sie mir eben immer als Averil vorstellte. Schließlich fand ich einen Einstieg, der zu ihrem Namen passte. Dann kam die aufregende Sache, für die anderen Figuren Namen zu suchen. Stunden habe ich wach gelegen und mir die Namen überlegt. Die Hauptfigur heißt Perceval Dalrymple.«
»Hast du schon allen Namen gegeben?« fragte Diana sehnsüchtig. »Wenn nicht, würde ich wenigstens einen Namen gern aussuchen - von irgendeiner Randfigur. Dann hätte ich das Gefühl, auch einen Beitrag zu der Geschichte geleistet zu haben.«
»Du könntest für den kleinen Hausburschen der Lesters einen Namen auswählen«, gestattete Anne ihr. »Er spielt keine
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