Anne in Kingsport
große Rolle und er ist der Einzige, der noch keinen Namen hat.«
»Nenn ihn doch Raymond Fitzosborne«, schlug Diana vor, die noch aus der Zeit des »Geschichtenklubs« eine ganze Liste von Namen im Kopf hatte, den Anne, Jane Andrews und Ruby Gillis während ihrer Schulzeit gegründet hatten.
Anne schüttelte unschlüssig den Kopf.
»Der Name ist für einen Hausburschen etwas zu aristokratisch. Einen, der Schweine füttert und im Dreck arbeitet, kann ich mir nicht als Fitzosborne vorstellen, findest du nicht auch?«
Diana sah nicht ein, warum man nicht auch so weit gehen konnte. Aber vermutlich kannte Anne sich besser darin aus. Schließlich tauften sie ihn Robert Ray, je nach Lage der Dinge kurz Bobby genannt.
»Wie viel Geld bekommst du schätzungsweise dafür?«, fragte Diana.
Darüber hatte sich Anne überhaupt noch keine Gedanken gemacht. Sie hatte nur den Ruhm im Auge, nicht das lausige Geld, und ihre literarischen Träume waren noch völlig naiv. »Aber du lässt es mich doch lesen?«, flehte Diana.
»Wenn ich fertig bin, lese ich es dir und Mr Harrison vor, damit ihr eine ernsthafte Kritik dazu abgebt. Niemand sonst bekommt es zu sehen, bevor es nicht veröffentlicht ist.«
»Wie geht es denn aus, gibt es schließlich ein Happyend oder nicht?«
»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Ein Schluss ohne Happyend wäre mir lieber, weil das viel romantischer wäre. Aber ich glaube, die Herausgeber haben etwas gegen Geschichten, die nicht gut ausgehen. Professor Hamilton hat einmal gesagt, nur ein Genie solle sich an Geschichten ohne Happyend heranwagen. Und ich«, schloss Anne bescheiden, »bin weiß Gott kein Genie.«
»Mir sind Geschichten mit Happyend am liebsten. Lass sie doch heiraten«, sagte Diana, die seit ihrer Verlobung mit Fred fand, dass alle Geschichten so enden sollten.
»Aber vergießt du bei Geschichten nicht gern ein paar Tränen?«
»Naja, mittendrin schon. Aber am Schluss muss es gut ausgehen.«
»Wenigstens eine traurige Episode sollte darin Vorkommen«, sagte Anne nachdenklich. »Ich könnte es ja so machen, dass Robert Ray bei einem Unfall verletzt wird und dann stirbt.«
»Nein, du darfst meinen Bobby nicht sterben lassen«, erklärte Diana lachend. »Er stammt von mir und ich will, dass es ihm gut geht. Lass einen anderen sterben, wenn es unbedingt sein muss.«
Die folgenden zwei Wochen plagte sich Anne mit ihren literarischen Versuchen. Einmal freute sie sich über eine gute Idee, dann war sie kurz vor der Verzweiflung, weil sich irgendeine eigensinnige Figur nicht so benahm, wie sie sollte. Diana konnte das überhaupt nicht verstehen.
»Lass sie doch einfach so handeln, wie du es willst«, sagte sie. »Das geht eben nicht«, klagte Anne. »Averil ist eine eigensinnige Hauptfigur. Sie sagt und tut Dinge, die ich nie mit ihr vorgehabt habe. Dann ist wieder alles, was ich vorher geschrieben habe, völlig verdorben und ich kann von vorn anfangen.«
Schließlich jedoch war die Geschichte fertig und Anne las sie Diana in dem abgeschiedenen Giebelzimmer vor. Sie hatte ihre »rührselige Szene«, ohne dafür Robert Ray sterben lassen zu müssen, und sie musterte Diana kritisch, als sie ihr die Stelle vorlas. Diana verhielt sich wie erhofft und vergoss ein paar Tränen. Doch als sie zum Schluss kam, sah sie ein wenig enttäuscht drein.
»Warum hast du Maurice Lennox sterben lassen?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Er ist der Bösewicht«, wandte Anne ein. »Er muss seine gerechte Strafe bekommen.«
»Er hat mir aber von allen am besten gefallen«, sagte Diana uneinsichtig.
»Nun ist er tot und bleibt auch tot«, sagte Anne ziemlich verärgert. »Hätte ich ihn leben lassen, wäre er Averil und Perceval ewig auf den Fersen geblieben.«
»Vielleicht, es sei denn, du hättest es so gemacht, dass er sich bessert.«
»Das wäre nicht romantisch, und außerdem wäre dann die Geschichte zu lang geworden.«
»Na, ist ja egal, aufjeden Fall ist es eine tolle Geschichte und ich bin sicher, du wirst damit berühmt. Hast du schon einen Titel?«
»Schon lange. Er lautet Averils Versöhnung. Klingt das nicht gut? Aber sag mal ganz ehrlich, hat die Geschichte irgendwelche Schwachstellen?«
»Hm«, zögerte Diana, »die Szene, in der Averil den Kuchen backt, finde ich nicht romantisch genug und sie passt nicht ganz dazu, finde ich.«
»Aber an eben der Stelle ist sie besonders humorvoll und es ist eine der besten Szenen der ganzen Geschichte«, sagte Anne. Und in dem Punkt hatte Anne
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