Anne in Kingsport
aufzuhören.
Anne nannte eine Summe. Miss Patty nickte ernst.
»Das reicht uns. Wir sind zwar nicht reich, aber wir haben genügend Geld, um die Reise nach Europa zu machen. Ich war noch nie dort und habe mein Lebtag nicht daran gedacht und eigentlich auch nicht hingewollt. Aber meine Nichte, Maria Spofford, kam auf die Idee. Nun, und so jung wie Maria ist, kann sie nicht einfach allein durch die Weltgeschichte reisen.«
»Nein ... das . . . das geht sicher nicht«, murmelte Anne, als sie feststellte, dass es Miss Pattys vollster Ernst war.
»Seht ihr, und deshalb muss ich mitfahren und auf sie aufpassen. Gefallen wird es mir aber bestimmt auch. Ich bin zwar schon siebzig Jahre alt, aber Spaß am Leben habe ich immer noch. Wir werden für zwei Jahre in Europa bleiben, vielleicht auch drei. Im Juni geht die Reise per Schiff los. Vorher schicken wir euch den Schlüssel zu und lassen alles so zurück, dass ihr sofort einziehen könnt. Ein paar Dinge, an denen wir besonders hängen, verpacken wir, aber alles andere bleibt da.«
»Lassen Sie auch die Porzellanhunde stehen?«, fragte Anne schüchtern.
»Soll ich?«
»O ja, bitte. Sie sind wunderschön.«
Miss Pattys Gesicht nahm einen erfreuten Ausdruck an.
»Ich hänge sehr an ihnen«, sagte sie stolz. »Sie sind über hundert Jahre alt, und sie stehen dort vor dem Kamin, seit mein Bruder sie vor fünfzigjahren aus London mitgebracht hat. Ich lasse die Hunde stehen, wenn ihr versprecht, dass ihr gut auf sie Acht gebt«, sagte sie. »Dann ist da noch etwas. Ihr habt doch hoffentlich nichts dagegen, dass das Haus den Namen Pattys Haus behält?«
»Nein, ganz und gar nicht. Das ist ja gerade mit das Schönste daran.«
»Ich sehe, ihr habt Sinn dafür«, sagte Miss Patty in einem Ton höchster Zufriedenheit. »Ist das zu glauben? Sämtliche Leute, die das Haus mieten wollten, haben angefragt, ob sie nicht das Schild am Tor abnehmen dürfen, solange sie das Haus bewohnen. Ich habe ihnen rundweg erklärt, dass der Name zum Haus gehört. Es hat Pattys Haus geheißen, seit mein Bruder es mir in seinem Testament vermacht hat, und Pattys Haus soll es bleiben. Wollt ihr euch nicht erst einmal alles ansehen, bevor wir den Mietvertrag abschließen?«
Die weitere Besichtigung des Hauses brachte die Mädchen nur noch mehr in Verzückung. Neben der großen Wohnstube gab es eine Küche und unten ein kleines Schlafzimmer. Oben waren drei Zimmer, ein großes und zwei kleine. Anne gefiel vor allem eins der kleinen Zimmer, das auf die großen Kiefern hinaussah, und hoffte, sie würde es bekommen. Es war in einem blassen Blau tapeziert und es stand eine kleine altmodische Kommode mit Kerzenhaltern darin. Das Zimmer hatte ein Fenster mit rautenförmigen Scheiben und vor dem blauen Musselinvorhang stand ein Stuhl, wo es sich prima lernen oder träumen ließ.
»Es kommt mir alles so wundervoll vor, dass wir gleich aufwachen werden und es sich alles als Traum herausstellt«, sagte Priscilla, als sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten. »Miss Patty und Miss Maria sind kaum aus dem Stoff, aus dem Träume gemacht sind«, lachte Anne. »Kannst du dir vorstellen, dass sie >durch die Weltgeschichte reisen< - und das mit den Mützen und Schals?«
»Ich weiß nicht, ob sie sie überhaupt jemals abnehmen«, sagte Priscilla, »aber fest steht, dass sie überallhin ihr Strickzeug mitnehmen. Sie werden sicher strickend durch die Westminster Abbey wandeln. Währenddessen, Anne, wohnen wir in Pattys Haus - und noch dazu an der Spofford Avenue. Ich komme mir schon jetzt wie eine Millionärin vor.«
Am gleichen Nachmittag kam Phil nach St. John’s und warf sich auf Annes Bett.
»Ach, ihr zwei Lieben, ich bin todmüde. Ich fühle mich wie ein Heimatloser - oder ein Mensch ohne Schatten, ich weiß nicht mehr, wie es richtig heißen muss. Jedenfalls habe ich alle meine Sachen gepackt.«
»Wahrscheinlich bist du so müde, weil du dich nicht entscheiden konntest, was du zuerst einpacken solltest oder wohin damit«, sagte Priscilla lachend.
»Genau. Und als ich alles irgendwie verstaut hatte, wobei sich meine Wirtin und ihr Dienstmädchen auf den Koffer setzen mussten, damit er zuging, da stellte ich fest, dass ich die Sachen, die ich für die Abschlussfeier brauche, ganz unten hineingelegt hatte. Ich musste das alte Ding wieder aufmachen und habe eine geschlagene Stunde nach den Sachen gegraben, bis ich das Richtige hatte. Jedenfalls bekam ich dauernd etwas zu fassen, das sich genauso anfühlte,
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