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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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so jemand umgänglich ist.«
    »Ach, na ja, was das angeht, die Probe aufs Exempel steht uns allen noch bevor. Wir müssen eben wie vernünftige Leute miteinander umgehen: leben und leben lassen. Phil ist nicht egoistisch, nur manchmal etwas gedankenlos. Ich glaube, wir werden in Pattys Haus alle unseren Spaß haben.«

11 - Der Lauf des Lebens
    Anne kehrte nach anstrengender Paukerei, die ihr das Stipendium eingebracht hatte, nach Avonlea zurück. Die Leute sagten, sie hätte sich kaum verändert, allerdings in einem Tonfall, aus dem sie ersehen konnte, dass sie überrascht und auch ein wenig enttäuscht waren, dass es so war. In Avonlea war auch alles beim Alten geblieben, zumindest schien es auf Anhieb so. Aber als Anne am ersten Sonntag nach ihrer Rückkehr in der cuthbertschen Kirchenbank saß und ihren Blick über die versammelte Gemeinde schweifen ließ, fielen ihr mehrere kleine Veränderungen auf. Auch in Avonlea stand die Zeit nicht still. Von der Kanzel predigte ein neuer Pfarrer, und in so mancher Kirchenbank fehlten vertraute Gesichter. Der alte »Onkel Abe«, der nie mehr seine Prophezeiungen abgeben würde, Mrs Peter Sloane, die ihren hoffentlich letzten Seufzer getan hatte, Timothy Cotton, der, wie Mrs Rachel Lynde sagt, »es nach zwanzig Jahren Übung tatsächlich geschafft hatte, zu sterben«, und der alte Josiah Sloane, den niemand in seinem Sarg wieder erkannt hatte, weil sein Bart so ordentlich gestutzt war - sie alle ruhten auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche. Und Billy Andrews würde Nettie Blewett heiraten! An dem Sonntag hatten sie ihren »ersten Auftritt«. Als Billy strahlend vor Stolz und Glück seine mit einem riesigen Hut geschmückte und in Seide gekleidete Braut in der Kirchenbank der Harmon Andrews vorzeigte, senkte Anne die Augen, um ihre funkelnden Blicke zu verbergen. Sie rief sich den stürmischen Winterabend in den Weihnachtsferien ins Gedächtnis, als Jane an Billys Statt um ihre Hand angehalten hatte. Ganz offenkundig hatte ihm die Ablehnung nicht das Herz gebrochen. Anne fragte sich, ob Jane stellvertretend für ihn auch Nettie den Antrag gestellt hatte oder ob er endlich so viel Mumm aufgebracht hatte, ihr selbst diese schicksalsschwere Frage zu stellen. Die gesamte Andrews-Familie schien an seinem Stolz und Glück teilzuhaben, angefangen von Mrs Harmon, die in ihrer Kirchenbank saß, bis hin zu Jane, die im Chor mitwirkte. Jane unterrichtete nicht mehr an der Schule von Avonlea und wollte im Herbst in die Weststaaten gehen.
    »Findet in Avonlea keinen Freund, wenn du mich fragst«, sagte Mrs Rachel Lynde verächtlich. » Behauptet , das Klima im Westen würde ihrer Gesundheit besser bekommen. Bisher ist mir aber nicht zu Ohren gekommen, dass es ihr gesundheitlich schlecht ginge.«
    »Jane ist ein nettes Mädchen«, hatte Anne treu ihre Freundin verteidigt. »Anders als so manche hat sie sich nie in den Mittelpunkt gerückt.«
    »Hinter Jungen war sie nie groß her, wenn du das meinst«, sagte Mrs Rachel direkt. »Aber eine Heirat wäre ihr, wie den meisten anderen auch, schon recht. Was sonst zieht sie an einen gottverlassenen Ort im Westen, von dem man einzig und allein weiß, dass es dort viele Männer, aber nur wenig Frauen gibt? Erzähle mir nichts!«
    Aber es war jemand anders, den Anne an diesem Tag voller Bestürzung und Befremden betrachtete: Ruby Cillis, die im Chor neben Jane saß. Was war mit Ruby passiert? Sie wirkte noch hübscher als sonst, aber nur auf den ersten Blick. Ihre blauen Augen leuchteten eine Spur zu hell, und ihre Wangen glühten vor Fieber. Außerdem war sie ganz abgemagert. Die Hände, die das Gesangbuch hielten, waren so zart, dass sie fast durchscheinend wirkten.
    »Ist Ruby Gillis krank?«, fragte Anne Mrs Lynde, als sie von der Kirche nach Hause gingen.
    »Ruby Gillis hat eine galoppierende Schwindsucht«, sagte Mrs Lynde grob. »Alle wissen es, nur sie und ihre Familie geben sich völlig ahnungslos, sie wollen es einfach nicht wahrhaben. Wenn du mich fragst, dann geht es Ruby blendend. Die hat zwar nicht mehr unterrichten können, seit sie im Winter einen schweren Autounfall hatte, aber sie behauptet steif und fest, sie würde im Herbst wieder Unterricht geben. Sie ist längst unter der Erde, das arme Mädchen, bis die Schule wieder anfängt.«
    Anne hörte in entsetztem Schweigen zu. Ruby Gillis und sterben, ihre alte Schulfreundin? War das wahr? In den letzten Jahren hatten sie sich etwas aus den Augen verloren, aber die alte

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