Anne in Kingsport
Anne. Denk an Mrs Morgan, schick die Geschichte an Die Kanadische Frau.«
»Das mach ich auch«, sagte Anne und fasste sich ein Herz. »Und wenn die sie veröffentlichen, dann schicke ich diesem amerikanischen Herausgeber ein Exemplar. Aber den Sonnenuntergang streiche ich. Ich glaube, Mr Harrison hatte Recht.«
Der Sonnenuntergang wurde also gestrichen. Aber trotz dieser Kürzung sandte Die Kanadische Frau die Geschichte so schnell zurück, dass die empörte Diana erklärte, dass sie es unmöglich schon gelesen haben könnten, und verkündete, sie würde auf der Stelle ihr Abonnement abbestellen. Anne nahm diese zweite Ablehnung in stiller Verzweiflung auf. Sie verschloss die Geschichte in den Koffer auf dem Dachboden, in dem die alten Geschichtenklub-Erzählungen ruhten. Aber auf ihr Bitten und Betteln überließ sie Diana eine Ausfertigung. »Das ist das Ende meiner literarischen Ambitionen«, sagte sie bitter.
Mr Harrison gegenüber erwähnte sie die Angelegenheit mit keinem Wort, doch eines Abends fragte er sie auf den Kopf zu, ob ihre Geschichte angenommen worden war.
»Nein«, antwortete sie kurz.
Mr Harrison wandte sich ab, als er ihr rotes, betroffenes Gesicht sah.
»Aber du wirst doch weiterschreiben«, sagte er aufmunternd. »Nein, nie mehr«, erklärte Anne, mit der verzweifelten Endgültigkeit einer Neunzehnjährigen, wenn man ihr eine Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
»Ich würde nicht gleich die Flinte ins Korn werfen«, sagte Mr Harrison gedankenvoll. »Ich habe auch mal eine Geschichte geschrieben, aber ich bin damit nicht irgendwelchen Zeitschriften auf den Wecker gefallen. Ich habe von Land und Leuten geschrieben, die ich kenne, und habe meine Figuren gewöhnliches Englisch reden lassen. Und ich habe die Sonne ganz gewöhnlich auf- und untergehen lassen. Wenn bei mir überhaupt Bösewichte vorkämen, dann würde ich ihnen eine Chance geben, Anne - jawohl! Es mag von Grund auf schlechte Menschen auf der Welt geben, aber da muss man lange suchen - auch wenn Mrs Lynde noch so oft das Gegenteil behauptet. Die meisten haben auch ein Fünkchen Anstand im Leibe. Schreibe also weiter Geschichten, Anne.«
»Nein. Es war albern von mir, es überhaupt zu probieren. Wenn ich am Redmond fertig bin, werde ich weiter unterrichten. Das beherrsche ich. Schreiben dagegen nicht.«
»Wenn du am Redmond fertig bist, ist es langsam Zeit, dass du dir einen Mann angelst«, sagte Mr Harrison. »Ich halte nichts davon, das Heiraten allzu lange vor sich herzuschieben - so wie ich.«
Anne stand auf und ging nach Hause. Es gab Momente, da war Mr Harrison wirklich unerträglich. »Einen Mann angeln.« Grrrü!
13 - Die Übeltäter
Davy und Dora waren fertig angezogen für die Sonntagsschule. Sie würden allein hingehen, was höchst selten einmal vorkam, denn sonst begleitete Mrs Lynde sie immer. Aber Mrs Lynde hatte sich den Knöchel verstaucht und humpelte. Anne war tags zuvor zu Freunden nach Carmody gegangen und Marilla hatte wieder Kopfschmerzen.
Davy kam langsam die Treppe herunter. Mrs Lynde hatte Dora beim Anziehen geholfen. Und Dora wartete jetzt im Flur. Davy hatte sich allein angezogen, in der Tasche hatte er eine 1-Cent-Münze für die Kollekte in der Sonntagsschule und eine 5-Cent-Münze für die Kirchenkollekte. In der einen Hand hielt er die Bibel, in der anderen das Katechismusheft für die Sonntagsschule. Seinen Bibeltext und die Katechismusfrage konnte er auswendig. Mrs Lynde hatte ihn abgefragt. Davy hätte also ruhig und gelassen sein könne. Aber innerlich tobte er wie ein wütender Wolf.
»Hast du dich auch ordentlich gewaschen?«, fragte Mrs Lynde streng.
»Ja - das sieht man mir doch wohl an«, erwiderte Davy mit trotzigem, finsterem Blick.
Mrs Rachel seufzte. Sie hatte da so ihre Zweifel. Aber sie wusste, dass Davy sich aus dem Staub machen würde, wenn sie ihn sich vorknöpfte. Und derzeit war sie außer Stande seine Verfolgung aufzunehmen.
»Also, benimm dich ordentlich«, warnte sie ihn. »Lauf nicht durch den Dreck. Bleib nicht im Gang stehen und schwatz nicht mit anderen Kindern. Wipp nicht auf dem Stuhl hin und her. Vergiss deinen Bibeltext nicht. Verlier nicht das Geld für die Kollekte und vergiss nicht, es auch hineinzutun. Flüstere nicht, wenn gebetet wird, und hör gut zu bei der Predigt.« Davy ließ sich zu keiner Antwort herab. Er marschierte los und wanderte den Hohlweg hinunter. Davy hatte schon genug unter Miss Rachel Lynde gelitten, seit sie auf Green Gables
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