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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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einschlafen, ich muss es erst jemandem erzählen.«
    »Wem musst du was erzählen?«
    »Wie elend mir zu Mute ist.«
    »Warum denn, mein Schatz?«
    »Weil ich heute was Schlimmes getan hab - schlimmer als alles bisher Dagewesene.«
    »Was denn?«
    »Ich trau mich nicht, es dir zu erzählen. Du hast mich dann bestimmt nicht mehr lieb. Ich konnte auch nicht beten. Ich konnte es Gott einfach nicht erzählen. Ich schäm mich so.«
    »Aber er weiß es doch sowieso, Davy.«
    »Das hat Dora auch gesagt. Aber vielleicht hat er es gerade nicht mitgekriegt. Lieber erzähl ich’s dir zuerst.«
    »Na, sag es schon.«
    Da sprudelte es nur so aus ihm heraus.
    Dann herrschte Stille. Davy wusste nicht, was er davon halten sollte. War Anne so entsetzt, dass sie nie wieder ein Wort mit ihm sprach?
    »Anne, was machst du jetzt mit mir?«, flüsterte er.
    »Nichts, mein Lieber. Du hast deine Strafe schon weg.«
    »Nein. Mir ist nichts passiert.«
    »Du bist doch seither ganz unglücklich, oder?«
    »Da kannste Gift drauf nehmen!«, sagte Davy mit Nachdruck. »Das ist dein schlechtes Gewissen, Davy.«
    »Was ist das Gewissen? Das will ich wissen.«
    »Es sagt dir, wenn du ein Unrecht getan hast, und macht dich unglücklich. Hast du das noch nie gemerkt?«
    »Doch, aber ich wusste nicht, was es war. Ich wollte, ich hätte kein Gewissen. Dann hätte ich viel mehr Spaß. Wo ist das Gewissen, Anne? Das will ich wissen. Im Magen?«
    »Nein, in der Seele«, antwortete Anne und war froh, dass es dunkel war, denn ernsten Angelegenheiten muss man mit dem nötigen Ernst begegnen.
    »Dann kann ich’s wohl nicht loswerden«, sagte Davy mit einem Seufzer. »Verpetzt du mich bei Marilla und Mrs Lynde?«
    »Nein, mein Schatz. Es tut dir aber doch Leid, oder?«
    »Da kannste Gift drauf nehmen!«
    »Und du tust es auch nie wieder.«
    »Nein, aber...«, fügte Davy vorsichtig hinzu, »vielleicht stelle ich ja mal was anderes Schlimmes an.«
    »Du fluchst nie wieder, schwänzt nie wieder die Sonntagsschule und lügst nie wieder?«
    »Nein. Es lohnt sich ja nicht«, sagte Davy.
    »Also, Davy, dann bitte Gott um Vergebung.«
    »Hast du mir denn vergeben, Anne?«
    »Ja, Schatz.«
    »Dann«, sagte Davy fröhlich, »ist mir ziemlich schnuppe, ob Gott mir vergibt.«
    »Davy!«
    »Oh ... ich mach’s ja«, sagte Davy schnell, kletterte vom Bett und war, nach Annes Tonfall zu urteilen, sicher, dass er etwas Furchtbares gesagt haben musste. »Es macht mir nichts aus, ihn drum zu bitten, Anne. Bitte, lieber Gott, ich hab heute was Schlimmes angestellt und will versuchen, immer brav zu sein, und bitte vergib mir. - Siehst du, Anne.«
    »Also, sei ein braver Junge, und ab ins Bett mit dir.«
    »In Ordnung. Weißt du was, ich bin gar nicht mehr unglücklich. Mir geht’s schon wieder blendend. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Anne ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung in die Kissen fallen. Was war sie müde! Im nächsten Augenblick . . . »Anne!«
    Davy stand wieder neben ihrem Bett. Anne machte mühsam die Augen auf.
    »Was ist jetzt wieder los?«, sagte sie und versuchte einen ungeduldigen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Anne, ist dir schon mal aufgefallen, dass Mr Harrison immer spuckt? Wenn ich ganz doll übe, meinst du, dann könnte ich es auch?«
    Anne setzte sich auf.
    »Davy Keith«, sagte sie, »du gehst jetzt sofort schlafen, und weh dir, wenn nicht. . .«
    Davy ging und fragte nicht mehr weiter nach.

14 - Die Abberufung
    Anne saß mit Ruby im Garten der Gillis’. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Der Garten stand in voller Blütenpracht. Die Täler waren in Dunstschleier gehüllt, auf den Feldern prangten rote Astern.
    Anne hatte auf eine Fahrt an den Strand von White Sands verzichtet, damit sie den Abend mit Ruby verbringen konnte. Sie hatte den Sommer über viele Abende mit ihr verbracht, obwohl sie sich oft fragte, ob das überhaupt einen Sinn hatte. So manches Mal kehrte sie mit dem Entschluss nach Hause zurück, dass sie nicht wieder hingehen würde.
    Ruby wurde im Verlaufe des Sommers immer blasser. Sie unterrichtete nicht mehr und die feinen Stickarbeiten, die sie so gern machte, fielen ihr oft vor Erschöpfung aus der Hand. Aber sie war stets fröhlich und voller Hoffnung und erzählte in einem fort von ihren Freunden. Eben darum strengten Anne die Besuche jedoch so an. Was früher einmal nur amüsant gewesen war, war jetzt grausam. Der Tod lugte hinter der starren lebendigen Maske hervor. Doch Ruby schien an Anne zu hängen

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