Anne in Kingsport
tatsächlich Recht.
Diana enthielt sich jeder weiterer Kritik, aber Mr Harrison gab sich da weniger leicht zufrieden. Als Erstes merkte er an, dass die Geschichte viel zu viele ausführliche Beschreibungen enthielte. »Lass all die blumigen Passagen weg«, sagte er gar nicht feinfühlig.
Anne hatte das ungute Gefühl, dass Mr Harrison Recht hatte, und sie zwang sich dazu, den Großteil ihrer geliebten Beschreibungen zu streichen. Sie musste die Geschichte dreimal neu verfassen, bis sie in der nun knapper gehaltenen Form dem anspruchsvollen Mr Harrison gefiel.
»Ich habe alle Beschreibungen weggelassen, bis auf die vom Sonnenuntergang«, sagte sie schließlich. »Das konnte ich einfach nicht streichen. Es ist die beste überhaupt.«
»Es hat aber nichts mit der Geschichte zu tun«, sagte Mr Harrison. »Außerdem hättest du sie nicht bei reichen Leuten in der Stadt ansiedeln sollen. Warum spielt sie nicht hier in Avonlea - natürlich mit Phantasienamen, sonst hätte Mrs Rachel Lynde sich noch für die Hauptfigur gehalten.«
»Das wäre unmöglich gewesen«, protestierte Anne. »Avonlea mag noch so schön sein, aber für die Geschichte ist es nicht romantisch genug.«
»In Avonlea gibt es jede Menge Romantik - und auch jede Menge Tragödien«, sagte Mr Harrison trocken. »Deine Figuren sind gar nicht aus dem wirklichen Leben gegriffen. Sie reden zu viel und viel zu hochtrabend. Zum Beispiel die Stelle, wo dieser Dalrymple ganze zwei Seiten lang redet und das Mädchen nicht zu Wort kommen lässt. Hätte er das im richtigen Leben getan, dann hätte sie ihn längst hingeschickt, wo der Pfeffer wächst.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Anne rundweg. Sie fand es grausam, Averil, der würdigen, königinnengleichen Averil, einen Ausdruck wie »hingeschickt, wo der Pfeffer wächst« in den Mund zu legen.
»Jedenfalls«, zog Mr Harrison gnadenlos das Resümee, »begreife ich nicht, warum Maurice Lennox sie nicht zur Frau bekommt. Er ist ein gestandener Mann. Er hat Schlimmes getan, aber er hat wenigstens was getan. Perceval tut nichts anderes, als auf Freiersfüßen zu wandeln.«
»Maurice Lennox ist der Bösewicht«, sagte Anne entrüstet. »Warum gefällt er allen viel besser als Perceval?«
»Perceval ist zu gut. Er macht einen ärgerlich. Deinen nächsten Helden solltest du etwas menschlicher gestalten.«
»Averil kann unmöglich Maurice heiraten.«
»Sie hätte ihn ja ändern können. Man kann einen Menschen nämlich dazu bringen, dass er sich ändert, natürlich nicht so einen Schlappschwanz. Deine Geschichte ist nicht schlecht -irgendwie interessant. Aber du bist noch zu jung, um eine wirklich gute Geschichte zu schreiben. Warte noch zehn Jahre damit.«
Anne beschloss, dass sie bei ihrer nächsten Geschichte niemand um eine Kritik bitten würde. Es raubte einem jeden Mut.
Gilbert würde sie ihre Geschichte nicht vorlesen, obwohl sie ihm davon erzählt hatte.
»Wenn sie genommen wird, dann kannst du sie ja nach der Veröffentlichung lesen, Gilbert, aber wenn nichts daraus wird, dann kriegt sie niemand zu sehen.«
Eines Tages trug Anne einen langen, dicken Umschlag aufs Postamt, adressiert an die größte der »großen« Zeitschriften. Diana war genauso gespannt wie Anne.
»Was meinst du, wie lange du auf eine Antwort warten musst?«, sagte sie.
»Zwei Wochen ungefähr wird es wohl dauern. Oh, was wäre ich stolz und glücklich, wenn sie sie annehmen!«
»Natürlich wird sie angenommen, und wahrscheinlich wird man dich bitten, noch mehr Geschichten einzuschicken. Vielleicht bist du eines Tages so berühmt wie Mrs Morgan, Anne, dann werde ich ja stolz sein, dass ich dich kenne«, sagte Diana, die stets voll selbstloser Bewunderung für die Talente ihrer Freunde war.
Eine Woche voller Träume folgte, dann kam das bittere Erwachen. Eines Abends fand Diana Anne in dem Giebelzimmer vor, wie sie niedergeschlagen dasaß. Auf dem Tisch ein langer Briefumschlag und ein zerknülltes Manuskript.
»Anne, haben sie etwa deine Geschichte zurückgeschickt?«, rief Diana ungläubig.
»Ja«, sagte Anne kurz.
»Die müssen verrückt sein. Und mit welcher Begründung?«
»Gar keiner. Da liegt nur eine kurze getippte Nachricht bei, dass sie nicht in Frage käme.«
»Von der Zeitschrift habe ich noch nie viel gehalten«, sagte Diana hitzig. »Die Geschichten sind nicht halb so interessant wie die in der Kanadischen Frau, obwohl sie teurer ist. Wahrscheinlich haben sie was gegen jeden, der kein Yankee ist. Kopf hoch,
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