Anne in Kingsport
Cottons. Im Bach wimmelte es von Forellen. Es wurde ein herrlicher Vormittag - für die Cottons jedenfalls, und bei Davy hatte es auch den Anschein. Dora war erbärmlich zu Mute. Sie folgte den anderen, hielt ihre Bibel und das Katechismusheft fest in der Hand und dachte bitter an ihre Lieblingsstunde bei ihrem Lieblingslehrer in der Sonntagsschule. Stattdessen musste sie mit diesen halbwilden Cottons durch den Wald streifen.
Die Forellen bissen besonders gut an. Nach einer Stunde hatten sie jede Menge gefangen. Also gingen sie zu Doras großer Erleichterung wieder zum Haus. Dora setzte sich steif auf einen Hühnerkorb im Hof, während die anderen johlend Fangen spielten, auf das Dach des Schweinestalls kletterten und ihre Initialen in das Sattelbrett ritzten. Der Hühnerstall mit dem flachen Dach und der Strohhaufen darunter brachten Davy auf die nächste Idee. Eine halbe Stunde lang brachten sie damit zu, unter lautem Gegröle vom Dach hinunter ins Stroh zu springen.
Aber auch verbotene Vergnügen haben ein Ende. Als sie Kutschen über die alte Holzbrücke rumpeln hörten, wussten sie, dass die Kirche aus war. Also war es Zeit, aufzubrechen. Seufzend ließ er seine aufgefädelten Forellen liegen. Er konnte sie in keinem Fall mit nach Hause nehmen.
»Na, war das nicht toll?«, sagte er keck, als sie die Wiese am Hang hinuntergingen.
»Fand ich nicht«, sagte Dora geradeheraus. »Und du eigentlich auch nicht«, fügte sie hinzu.
»Wohl«, rief Davy. »Aber kein Wunder, dass es dir keinen Spaß gemacht hat. Sitzt nur rum wie ein . . . wie ein Esel.«
»Ich jedenfalls gebe mich in Zukunft nicht mehr mit den Cottons ab«, sagte Dora hochmütig.
»Die Cottons sind ganz in Ordnung«, erwiderte Davy. »Die haben mehr Spaß als wir. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Das mach ich ab jetzt auch.«
»Es gibt aber einen Haufen Dinge, die du dich nie trauen würdest, denke ich«, behauptete Dora.
»Du und denken!«, erwiderte Davy schon etwas weniger verächtlich.
Davy wurde allmählich unwohl in seiner Haut, obwohl er eher gestorben wäre, als es Dora gegenüber zuzugeben. Jetzt, wo der Spaß am Kircheschwänzen langsam nachließ, bekam er Gewissensbisse.
Aber das Maß war noch nicht voll. Davy musste feststellen, dass eine Lüge die nächste nach sich zog. Sie aßen an dem Tag zusammen mit Mrs Lynde zu Mittag, und als Erstes fragte sie Davy: »Waren heute alle da in der Sonntagsschule?«
»Ja-ah«, sagte Davy und schluckte. »Alle - bis auf einen.«
»Hast du deinen Bibeltext und den Katechismus aufgesagt?«
»Ja-ah.«
»Hast du das Geld in die Kollekte getan?«
»Ja-ah.«
»War Mrs Malcolm MacPherson in der Kirche?«
»Weiß ich nicht.« Das zumindest entsprach der Wahrheit, dachte der Schuft von Davy.
»Findet nächste Woche das Treffen des Hilfsvereins statt?«
»Ja-ah«, kam es zitternd.
»Und die Andacht?«
»Ich ... ich weiß nicht.«
»Das solltest du aber. Du solltest aufmerksamer zuhören bei den Ankündigungen. Welchen Bibeltext hat Mr Harvey vorgelesen?«
Wie aus der Pistole geschossen, sagte er ein Bibelzitat auf, das er vor ein paar Wochen auswendig gelernt hatte. Zum Glück hörte Mrs Lynde dann auf, ihn weiter auszufragen. Aber das Essen schmeckte trotzdem nicht mehr. Er brachte nur eine Portion Pudding hinunter.
»Was ist mit dir los?«, fragte die mit Recht erstaunte Mrs Lynde. »Bist du krank?«
»Nein«, murmelte Davy.
»Du siehst blass aus. Du gehst heute besser nicht nach draußen spielen«, ermahnte Mrs Lynde ihn.
»Weißt du, wie oft du Mrs Lynde angelogen hast?«, fragte Dora tadelnd, sobald sie nach dem Essen allein waren.
»Keine Ahnung, es interessiert mich auch nicht«, sagte er. »Halt endlich deine Klappe, Dora Keith.«
Dann suchte Davy hinter dem Holzstoß Zuflucht, um über die Übeltäter und ihre Untaten nachzudenken.
Green Gables lag dunkel und still da, als Anne zu Hause ankam. Sie ging sofort ins Bett, denn sie war sehr müde, in der Vorwoche hatten in Avonlea einige Partys stattgefunden, sodass sie meist erst spät nach Hause gekommen war. Kaum hatte sie sich hingelegt, schlief sie auch schon halb. Aber da ging leise die Tür auf und eine Stimme sagte flehend: »Anne.« Anne setzte sich verschlafen auf.
»Davy, bist du es? Was ist los?«
Eine Gestalt in weißem Nachthemd kam durchs Zimmer gestürzt und warf sich auf ihr Bett.
»Anne«, schluchzte Davy und schlang die Arme um sie. »Was für ein Segen, dass du wieder da bist. Ich kann nicht
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