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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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und wollte sie nicht gehen lassen. Anne musste ihr jedes Mal versprechen, bald wieder zu kommen. Mrs Lynde schimpfte mit Anne, sie würde sich noch die Schwindsucht holen.
    Auch Marilla kamen Zweifel.
    »Jedes Mal, wenn du von Ruby zurückkommst, siehst du ganz erschöpft aus«, sagte sie.
    »Es ist traurig und furchtbar«, sagte Anne mit leiser Stimme. »Ruby scheint sich ihren Zustand gar nicht klarzumachen. Aber ich spüre, dass sie Hilfe braucht - regelrecht um Hilfe fleht. Und ich will ihr helfen und kann es nicht. Ich komme mir vor wie ein Zuschauer bei ihrem Kampf gegen den unsichtbaren Feind - wie sie ihn mit dem bisschen Kraft, die sie noch hat, wegzustoßen versucht. Darum bin ich hinterher jedes Mal so erschöpft.«
    Aber diesmal war es nicht so anstrengend wie sonst. Ruby war merkwürdig still. Sie verlor kein Wort über Partys und Ausflüge und »junge Burschen«. Sie lag in der Hängematte, die Stickarbeit lag unangetastet neben ihr. Sie hatte sich einen weißen Schal um die dürren Schultern gewickelt. Sie hatte die Haarspangen herausgenommen - sie bekäme davon Kopfweh, sagte sie. Die fiebrigen roten Flecken waren verschwunden, sie sah so bleich aus und wirkte ganz kindlich. Der Mond ging auf und ließ die Wolken erstrahlen wie Perlen. Der Teich unterhalb schimmerte dunstig im Mondlicht. Gleich hinter der Farm der Gillis’ lag die Kirche mit dem Friedhof. Der Mond schien auf die weißen Grabsteine, sodass sie sich scharf gegen die dunklen Bäume abhoben.
    »Wie seltsam der Friedhof im Mondlicht aussieht!«, sagte Ruby plötzlich. »Gespenstisch!«, erschauerte sie. »Nicht mehr lange, Anne, und ich werde dort liegen. Du und Diana und all die anderen werden leben - und ich werde dort liegen - auf dem Friedhof - tot!«
    Das kam so überraschend, dass Anne ganz verwirrt war. Eine Weile lang konnte sie nichts sagen.
    »Du weißt es, nicht wahr?«, beharrte Ruby.
    »Ja«, antwortete Anne leise. »Ich weiß es, liebe Ruby.«
    »Alle wissen es«, sagte Ruby bitter. »Ich auch - schon den ganzen Sommer, auch wenn ich es nicht eingestehen wollte.« Sie streckte die Hand aus und ergriff flehend Annes Hand. »Ich will nicht sterben. Ich habe Angst.«
    »Aber wovor hast du denn Angst, Ruby?«, sagte Anne ruhig. »Weil .. . weil... .oh, in den Himmel komme ich bestimmt. Aber... alles wird so anders sein. Ich meine ... ich meine ... davor habe ich so Angst... und ... und ... ich werde Heimweh haben. Im Himmel ist es bestimmt schön ... aber es wird dort anders sein, als ich es gewohnt bin, Anne.«
    Anne musste an eine lustige Geschichte denken, die Philippa Gorden einmal erzählt hatte - die Geschichte von einem alten Mann, der fast das Gleiche gesagt hatte. Damals hatten sie es lustig gefunden, sie erinnerte sich daran, wie Priscilla und sie darüber gelacht hatten. Aber jetzt war es alles andere als lustig, wie Ruby es mit blassen, zittrigen Lippen sagte. Es war traurig, tragisch - und wahr! Im Himmel war es anders, als Ruby es gewohnt war. Anne fragte sich hilflos, was sie darauf sagen konnte. Konnte sie überhaupt etwas sagen? »Ich glaube, Ruby«, begann sie zögernd, »ich glaube, wir machen uns ganz falsche Vorstellungen vom Himmel - wie es dort ist und was uns dort erwartet. Wahrscheinlich ist es gar nicht so anders. Ich meine, wir werden dort ähnlich leben, wie wir auf der Erde auch gelebt haben - nur dass es leichter ist, gut zu sein und ... den höchsten Idealen zu folgen. Alle Hindernisse und Verwirrungen wird es nicht mehr geben und unser Blick ist unverstellt! Du brauchst dich nicht zu fürchten, Ruby.«
    »Ich kann mir nicht helfen«, sagte Ruby jämmerlich. »Selbst wenn es so ist - und du kannst auch nur Vermutungen anstellen -, kann es doch sein, dass deine Vorstellungen .. . nicht ganz zutreffen. Es kann unmöglich genauso sein. Ich will hier leben. Ich bin noch so jung, Anne. Mein Leben hat noch gar nicht richtig angefangen. Ich habe gegen den Tod angekämpft - aber es ist sinnlos - ich werde sterben - und alles zurücklassen müssen, was mir so viel bedeutet.«
    Anne saß mit fast unerträglichem Schmerz da. Sie konnte nicht weiter tröstende Lügen erzählen. Alles, was Ruby gesagt hatte, war schreckliche Wahrheit. Sie würde alles zurücklassen müssen, was ihr etwas bedeutete. Sie hatte nur für die irdischen Güter gelebt; sie hatte nur für die niederen Dinge des Lebens gelebt; sie hatte nur für die vergänglichen Dinge des Lebens gelebt - und darüber das eigentlich Wichtige vergessen.

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