Anne in Kingsport
In blinder Verzweiflung hing Ruby an den wenigen Dingen, die sie kannte und schätzte.
Ruby richtete sich auf und betrachtete mit ihren strahlend schönen Augen den Mond und den Himmel.
»Ich will leben«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich will leben, wie ihr. Ich . .. ich möchte Kinder haben, Anne ... Du weißt, wie gern ich Kinder mag, Anne. Das kann ich nur dir anvertrauen. Weil du es verstehst. Und Herb ... er... er liebt mich und ich liebe ihn, Anne. Die anderen haben mir nichts bedeutet, aber er ja ... und wenn ich am Leben bliebe, dann würden wir glücklich sein. O Anne, es ist hart.«
Ruby sank in die Kissen zurück und bekam einen Weinkrampf. Anne drückte ihre Hand - das half Ruby mehr als alle Worte. Sie wurde gleich wieder ruhiger und hörte auf zu weinen.
»Ich bin froh, Anne«, flüsterte sie. »Es hat mir gut getan, es einmal auszusprechen. Schon die ganze Zeit wollte ich es dir sagen, jedes Mal, wenn du da warst, aber ich konnte einfach nicht. Mir war, als würde der Tod gewiss, wenn ich oder sonstwer es aussprach oder auch nur eine Andeutung machte. Also habe ich es verdrängt. Am Tag, wenn Leute um mich herum waren, war ich ja abgelenkt. Aber nachts, wenn ich nicht schlafen konnte - war es furchtbar, Anne. Es ließ mich nicht mehr los. Der Tod stand vor mir und starrte mir ins Gesicht, bis mich solche Angst packte, dass ich hätte schreien mögen.«
»Aber jetzt hast du keine Angst mehr, Ruby, nicht wahr? Du wirst tapfer sein und fest daran glauben, dass es dir gut gehen wird.«
»Ich werde nachdenken über das, was du gesagt hast, und versuchen, daran zu glauben. Du kommst mich so oft du kannst besuchen, nicht wahr, Anne?«
»Ja, meine Liebe.«
»Es ... es wird nicht mehr lange gehen, Anne. Das fühle ich ganz deutlich. Dich habe ich am liebsten bei mir. Dich konnte ich schon immer am besten leiden. Em White hat mich gestern besucht. Du weißt doch noch, dass Em und ich uns all die Jahre in der Schule immer gut verstanden haben. Beim Abschlusskonzert haben wir uns dann verkracht. Wir haben seither kein Wort mehr miteinander geredet. Ist das nicht albern? So Sachen kommen mir jetzt einfach albern vor. Aber Em und ich haben uns gestern ausgesöhnt. Sie hätte schon vor ewigen Zeiten mit mir darüber reden wollen, aber sie hatte gedacht, dass ich es nicht wollte. Und ich bin ihr aus dem Weg gegangen, weil ich dachte, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will. Ist es nicht seltsam, wie man einander manchmal missversteht, Anne?«
»Die meisten Probleme im Leben beruhen auf Missverständnissen«, sagte Anne. »Ich muss jetzt gehen, Ruby. Es wird sonst zu spät - du solltest dich besser nicht länger hier im Kühlen aufhalten.«
»Du kommst doch bestimmt bald wieder?«
»Ja. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann tu ich das gern.«
»Ich weiß. Du hast mir schon geholfen. Jetzt ist alles nicht mehr so schlimm. Gute Nacht, Anne.«
»Gute Nacht, meine Liebe.«
Anne ging langsam im Mondschein nach Hause. Der Abend hatte etwas in ihr verändert. Das Leben hatte eine andere Bedeutung bekommen. Nach außen hin würde es seinen gewohnten Gang nehmen. Aber tief im Innern war etwas aufgerührt worden. Nicht die unwichtigen Dinge, so schön und großartig sie auch sein mochten, waren es, wofür man lebte. Nach den höchsten Idealen galt es zu streben.
Jenes »Gute Nacht« war für alle Zeiten das letzte. Anne sah Ruby nicht mehr lebend wieder. Am nächsten Abend gab der D.V.V. eine Abschiedsparty für Jane Andrews, die in den Westen gehen wollte. Und während sie das Tanzbein schwangen und fröhlich erzählten, kam für Ruby der Tod. Am Tag danach verbreitete sich die Nachricht von Ruby Gillis’ Tod in Windeseile. Sie hatte keine Schmerzen gehabt und war friedlich eingeschlafen. Der Tod war zu ihr gekommen wie ein lieber Freund, nicht wie das grausige Gespenst, das ihr solche Angst gemacht hatte.
Mrs Rachel Lynde sagte nach der Beerdigung, dass von allen Toten, die sie je gesehen hätte, Ruby Gillis am friedlichsten ausgesehen hätte. Wie sie dalag in dem weißen Kleid und mit den schönen Blumen, mit denen Anne ihren Sarg geschmückt hatte, davon sprach man noch Jahre später in Avonlea.
Anne sah ihre alte Freundin durch einen Schleier von Tränen an. Mrs Gillis rief Anne zu sich, ehe der Beerdigungszug das Haus verließ, und gab ihr ein kleines Päckchen.
»Das sollst du bekommen«, schluchzte sie. »Das wäre auch Rubys Wunsch gewesen. Es ist das Tafeldeckchen, an dem sie
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