Anne in Kingsport
aufstehen und bissige Bemerkungen zu den Leuten machen, weil die miterleben wollten, wie sie unter die Erde gebracht wird. Aber Manila hat gemeint, das würde sie nicht tun.«
»Die gute Atossa hat so was von friedlich in ihrem Sarg gelegen«, sagte Mrs Lynde ernst. »Ihr Lebtag hat sie nicht so vergnügt dreingeschaut. Na ja, viele Tränen wurden ihretwegen nicht vergossen, die gute Seele. Die Wrights sind froh, dass sie sie los sind, und das kann ich ihnen nicht verdenken.«
»Ich finde es schrecklich, wenn kein Mensch einen vermisst«, sagte Anne schaudernd.
»Keiner, von ihren Eltern mal abgesehen, hat sie gemocht, nicht einmal ihr Mann«, behauptete Mrs Lynde. »Sie war seine vierte Frau, er hat sozusagen schon aus Gewohnheit geheiratet. Nach der Hochzeit hat er nur noch ein paar Jahre gelebt. Der Arzt hat gesagt, er wäre an einer Magenkrankheit gestorben, aber ich bleibe dabei, dass er wegen Atossas spitzer Zunge gestorben ist. Immer wusste sie haarklein über ihre Nachbarn Bescheid, nur nicht über sich selbst. Tja, nun ist sie ja sowieso nicht mehr da. Das nächste große Ereignis dürfte wohl Dianas Hochzeit sein.«
»Der Gedanke ist lustig und entsetzlich zugleich«, seufzte Anne, schlang die Arme um die Knie und sah zum Geisterwald und auf das Licht in Dianas Zimmer.
»Was ist denn daran entsetzlich, wo sie doch so prima dabei wegkommt?«, sagte Mrs Lynde mit Nachdruck. »Fred Wright besitzt eine ordentliche Frau und ist ein Muster von einem Mann.«
»Fest steht jedenfalls, dass er nicht der wilde, forsche Typ ist, wie Diana es sich früher immer ausgemalt hat«, lächelte Anne. »Fred ist ein Ausbund an Gutheit.«
»Das ist auch gut so. Würdest du Diana so einen Mann wünschen? Oder etwa selbst so einen wollen?«
»O nein. Ich nicht, aber ein bisschen forsch würde mir schon gefallen. Fred jedenfalls ist hoffnungslos gutmütig.«
»Ich hoffe doch, dass du irgendwann noch Vernunft annimmst«, sagte Marilla.
Marilla sagte das ziemlich verbittert. Sie war schwer enttäuscht. Sie wusste, dass Anne nicht mehr mit Gilbert zusammen war. Ganz Avonlea tuschelte darüber; es war herausgekommen, obwohl keiner wusste, wie. Jedenfalls war es in aller Munde. Mrs Blythe fragte Anne auch nicht mehr, ob unter vier Augen oder vor allen Leuten, ob sie in letzter Zeit etwas von Gilbert gehört hätte, sondern ging kühl grüßend an ihr vorbei. Marilla sprach Anne auch nicht darauf an. Aber Mrs Lynde konnte sich vor lauter Wut einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen. Bis ihr schließlich neuer Klatsch zugetragen wurde, und zwar durch Moody Spurgeon MacPhersons Mutter. Danach hatte Anne am College einen reichen, hübschen und überhaupt ganz tollen neuen »Schwarm«. Von da an hielt Mrs Rachel ihre Zunge im Zaum, obwohl ihr Gilbert lieber gewesen wäre. Reich war ja gut und schön, aber deswegen waren sie noch lange nicht die besseren Menschen. Aber wenn Anne den unbekannten Schönen lieber hatte als Gilbert, dann gab es nichts mehr zu sagen. Mrs Rachel hatte nur fürchterliche Angst, dass Anne sich vielleicht vom Geld blenden ließ. Marilla kannte Anne da viel besser. Aber sie spürte, dass da irgendetwas fürchterlich schief gelaufen war.
»Im Leben kommt alles, wie es kommt«, sagte Mrs Rachel düster. »Auch was man sich nicht wünscht, trifft manchmal ein. Und in Annes Fall wird es wohl eintreffen, wenn nicht die göttliche Vorsehung noch eingreift.«
Mrs Rachel seufzte. Sie befürchtete, dass die Vorsehung nicht eingriff. Und sie getraute sich auch nicht.
Anne war an die Dryadenquelle geschlendert und hatte sich im Farn am Stamm der großen weißen Birke niedergelassen. Dort hatten Gilbert und sie oft gesessen. Er hatte wieder die Arbeit bei der Zeitung angenommen, und ohne ihn war Avonlea schrecklich öde. Er schrieb ihr keinen einzigen Brief und Anne vermisste sie. Sicher, Roy schrieb ihr zweimal pro Woche. Seine Briefe waren feine Kompositionen. Anne liebte ihn über alles, wenn sie seine Briefe las. Aber ihr Herz machte nie diesen merkwürdigen kleinen Hüpfer, wenn sie Post von ihm erhielt - so wie das eine Mal, als Mrs Hiram Sloane ihr den schwarz beschrifteten Umschlag in Gilberts gerader Handschrift ausgehändigt hatte. Anne war nach Hause gerannt in den Ostgiebel und hatte den Brief aufgerissen: Er enthielt eine getippte Ausfertigung eines Berichts über den College-Verein - »nur das und sonst gar nichts«. Anne hatte das unschuldige Papier quer durchs Zimmer geschleudert und sich hingesetzt
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