Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
sein. Jo macht dies Frühjahr nämlich sein Examen. Anschließend übernimmt er eine kleine Pfarrstelle in der Patterson Street, wo nur arme Leute wohnen. Stelle dir vor - das mir. Aber ich würde auch in die Eisberge Grönlands mit ihm gehen. Ich werde ohne viel Geld genauso glücklich sein, wie ich es mit Geld war. Du wirst schon sehen. Tante Jamesina behauptet zwar, ich würde höchstens Jos Karriere ruinieren. Aber das stimmt nicht. Ich bin vielleicht nicht immer vernünftig und besonnen, dafür habe ich aber auch gute Eigenschaften - zum Beispiel kann ich gut mit Leuten umgehen.«
    »Phil, du bist und bleibst unverbesserlich. Tja, jetzt will mir gar keine nette, kleine Glückwunschrede einfallen. Aber ich freue mich für dich.«
    »Ich weiß es auch so. Deine Augen sagen alles. Und was ist mit dir? Du wirst Roy heiraten, nicht wahr, Anne?«
    »Meine liebe Philippa, darauf sage ich weder Ja noch Nein.«
    »Alle Welt weiß, dass Roy in dich verschossen ist«, sagte Phil freimütig. »Und du liebst ihn doch auch, oder?«
    »Ich ... ich denke schon«, sagte Anne zögernd. Normalerweise wäre sie rot geworden, dachte sie. Aber sie wurde nicht rot. Dagegen lief sie jedes Mal rot an, wenn irgendwer Gilbert Blythe oder Christine Stuart erwähnte. Gilbert Blythe und Christine waren ihr schnuppe - völlig schnuppe. Was Roy anging, sicher war sie in ihn verliebt - und wie! Was konnte sie dafür? War er etwa nicht ihr Traummann? Wer konnte diesen schönen dunklen Augen widerstehen und seiner Stimme? Waren nicht sämtliche Mädchen am Redmond rasend eifersüchtig auf sie? Und was für ein bezauberndes Gedicht er ihr zum Geburtstag geschrieben hatte! Anne konnte es in- und auswendig. Außerdem war es wirklich gut. Nicht ganz so gut wie eins von Shakespeare - so verliebt war Anne nun auch wieder nicht, als dass ihr das nicht aufgefallen wäre. Aber als Zeitungsgedicht zum Beispiel hätte es schon durchgehen können. Und es war ihr gewidmet - nicht Laura oder Beatrice oder sämtlichen Mädchen von Athen, sondern ihr, Anne Shirley.
    Gilbert wäre im Traum nicht eingefallen, ein Gedicht für sie zu schreiben. Dafür allerdings verstand Gilbert Spaß. Sie hatte Roy einmal eine schrecklich komische Geschichte erzählt-aber er hatte den Witz nicht begriffen. Sie wusste noch genau, wie Gilbert und sie schallend über die Geschichte gelacht hatten. Sie fragte sich, ob ein Leben mit einem Mann, der keinen Sinn für Humor hatte, auf Dauer nicht irgendwie langweilig war. Aber wer konnte von einem melancholischen unergründlichen Helden auch noch Humor verlangen? Das war doch schlicht dumm.

28 - Ein Abend im Juni
    »Wie lebte es sich wohl in einer Welt, in der immer Juni wäre?«, sagte Anne, als sie in der Dämmerung durch den duftenden, blühenden Garten zur Veranda kam. Dort saßen Manila und Mrs Rachel und sprachen über Mrs Samson Coates Beerdigung, an der sie am Nachmittag teilgenommen hatten. Dora saß zwischen ihnen und lernte fleißig. Davy saß im Gras und schaute so düster und niedergeschlagen drein, wie das mit seinem einen Grübchen nur irgend ging.
    »Das wärst du bald leid«, sagte Manila mit einem Seufzer. »Schon möglich. Aber wenn ich mir den Tag heute so angucke, dann denke ich, ich könnte es lange aushalten. Davy-Junge, was schaust du denn so finster drein?«
    »Ich mag nicht mehr leben«, sagte der kleine Pessimist.
    »Mit deinen zehn Jahren? Du liebe Zeit, wie traurig!«
    »Es ist mein Ernst«, sagte Davy mit Würde. »Ich bin nämlich ... ver-, verzweifelt«, sprach er mit heldenhafter Anstrengung das große Wort aus.
    »Und warum, bitte schön?«
    »Weil die neue Lehrerin, die für Mr Holmes gekommen ist, als er krank wurde, mir für Montag zehn Aufgaben aufgebrummt hat. Da sitze ich morgen den ganzen Tag dran. Es ist gemein, am Samstag arbeiten zu müssen. Milty Boulter hat gesagt, er würde sie einfach nicht machen, aber Manila verlangt es von mir. Ich hasse Miss Carson.«
    »Komm schon, Davy, Kopf hoch«, lachte Anne. »Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Soweit ich kann, helfe ich dir auch bei den Aufgaben. Zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber.«
    »Hm, na gut«, sagte Davy und strahlte wieder. »Wenn du mir hilfst, bin ich rechtzeitig fertig und kann mit Milty zum Angeln gehen. Wäre Tante Atossas Beerdigung doch bloß erst morgen und nicht schon heute gewesen. Ich wollte unbedingt hin, weil Milty gesagt hat, dass seine Mutter gesagt hat, Tante Atossa würde bestimmt aus dem Sarg

Weitere Kostenlose Bücher