Anne in Kingsport
unterhielten sich blendend und es wurde wieder etwas von der alten Kameradschaft spürbar. O ja, es war schön, diesen altvertrauten Weg wieder mit Gilbert zu gehen!
»Können wir nicht noch einen kleinen Umweg durch die Liebeslaube machen?«, fragte Gilbert, als sie über die Brücke am See der Glitzernden Wasser gingen, in dem sich der Mond wie eine riesige goldene Blüte spiegelte.
Anne war gleich einverstanden. Es hatte eine Zeit gegeben, als ein Spaziergang mit Gilbert durch die Liebeslaube viel zu gefährlich gewesen wäre. Aber Roy und Christine hatten jede Gefahr gebannt. Anne stellte fest, dass sie öfter an Christine dachte, während sie leichthin mit Gilbert plauderte. Sie hatte sie vor ihrer Abreise aus Kingsport einige Male getroffen und war sehr nett zu ihr gewesen, Christine ihr gegenüber ebenfalls. Sie hatten sich ganz gut verstanden. Eine Freundschaft hatte sich jedoch nicht daraus entwickelt. Christine war eben keine verwandte Seele.
»Bleibst du den ganzen Sommer über in Avonlea?«, fragte Gilbert.
»Nein, nächste Woche gehe ich nach Valley Road. Esther Hawthorne möchte, dass ich sie im Juli und August vertrete. An der Schule dort wird auch im Sommer unterrichtet, und Esther geht es nicht gut. Also springe ich für sie ein. Irgendwie ist es mir schon recht. Denn, weißt du, dass ich mir in Avonlea langsam wie eine Fremde vorkomme? Es ist schade -aber es ist so. Die meisten meiner ehemaligen Schüler sind inzwischen erwachsen. Ich komme mir steinalt vor.«
Anne lachte und seufzte. Sie kam sich wirklich uralt und reif und weise vor - woran man ablesen konnte, wie jung sie noch war. Sie sagte, dass sie sich schrecklich nach der unbeschwerten Zeit zurücksehne, wo man das Leben noch durch einen rosaroten Schleier von Träumen und Illusionen sah und es etwas hatte, das für immer verschwunden war. Wo waren sie geblieben - der Glanz und die Träume.
»Das ist der Lauf der Dinge«, meinte Gilbert ein wenig abwesend. Anne fragte sich, ob er in Gedanken bei Christine war. O ja, in Avonlea würde es einsam sein - so ohne Diana.
30 - Mrs Skinners Romanze
Anne stieg am Bahnhof von Valley Road aus dem Zug und schaute sich um, ob irgendwer da war, um sie abzuholen. Sie würde bei einer gewissen Miss Janet Sweet wohnen, aber sie entdeckte niemanden, der auch nur in Ansätzen ihren Vorstellungen von dieser Dame entsprochen hätte. Esther hatte sie ihr genau beschrieben.
Die einzige Person auf dem Bahnhof war eine ältere Frau, die auf einem Wagen voll beladen mit Postsäcken saß. Sie mochte gut zwei Zentner wiegen - vorsichtig geschätzt. Sie hatte ein rundes Mondgesicht, in dem man vor Fett kaum Gesichtszüge erkennen konnte. Sie trug ein enges schwarzes Kaschmirkleid nach der Mode von vor zehn Jahren, einen verstaubten kleinen schwarzen Strohhut mit gelben Bändern und verblichene schwarze Spitzenhandschuhe.
»He, Sie«, rief sie und winkte Anne mit der Peitsche her. »Sind Sie die neue Lehrerin von Valley Road?«
»Ja.«
»Hm, dachte ich’s mir doch. Valley Road ist nämlich bekannt für seine gut aussehenden Lehrerinnen. Janet Sweet hat mich heut Morgen gefragt, ob ich Sie nicht abholen könnte. >Klar kann ich das<, hab ich gesagt, >wenn’s ihr nichts ausmacht, dass sie ein bisschen eingezwängt sitzen muss.< Der Wagen hier reicht nämlich gerade so für die Postsäcke und ich bin schließlich etwas kräftiger als Thomas! Einen Moment noch, Miss, muss erst noch die Säcke da ein bisschen beiseite schieben, dann verstaue ich Sie schon irgendwie. Bis Janet sind’s nur zwei Meilen. Der Bursche von Ihrem nächsten Nachbarn holt später dann Ihren Koffer. Ich heiße übrigens Skinner -Amelia Skinner.«
Anne wurde also hineingezwängt, wobei sie amüsiert lachen musste.
»Hü, Schwarzer«, sagte Mrs Skinner und nahm mit ihren klobigen Händen die Zügel auf. »Hab die Post heute das erste Mal geholt. Thomas wollte heute Rüben hacken und hat gefragt, ob ich's mache. Also bin ich los. Macht irgendwie Spaß. Ist aber auch ziemlich langweilig. Die meiste Zeit hock ich rum und denk und hock wieder rum. Hü, Schwarzer. Ich will schnell wieder zu Hause sein. Thomas fühlt sich doch ohne mich ganz einsam. Wir sind nämlich noch nicht lange verheiratet, müssen Sie wissen.«
»Aha«, sagte Anne höflich.
»Erst einen Monat. Ist aber schon lange her, dass Thomas mich gefragt hat. War wirklich romantisch.«
»Aha?«, sagte Anne wieder.
»Ja. Wissen Se, es gab da nämlich noch einen. Hü, Schwarzer.
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