Anne in Windy Willows
lassen«, beharrte Tante Chatty.
»Du bist vielleicht zu alt!«, erwiderte Rebecca Dew darauf schroff. »Ich bin erst fünfundvierzig und noch im Vollbesitz meiner Kräfte! Und ich fände es nett, eine junge Dame bei uns zu haben! Ein Mädchen ist in jedem Fall besser als ein Junge, der Tag und Nacht raucht und unsere Betten anzündet. Wenn ihr schon einen Gast aufnehmen müsst, dann nehmt sie - das ist mein Rat. Aber schließlich ist es ja euer Haus.«
Damit verließ sie den Raum. Ich wusste, es würde klappen, aber Tante Chatty sagte, ich solle erst hinaufgehen und mir das Zimmer ansehen.
»Wir werden Ihnen das Turmzimmer geben, meine Liebe«, beschloss sie. »Es ist zwar nicht so groß wie das Gästezimmer, aber es hat dafür ein Ofenrohrloch, sodass man im Winter einen Ofen anschließen kann, und die Aussicht ist auch viel hübscher. Man kann von dort auf den alten Friedhof sehen.«
Ich war sicher, das Zimmer würde mir gefallen; schon der Name »Turmzimmer« klang viel versprechend. Wir stiegen also eine Wendeltreppe hinauf und standen kurz darauf in einem kleinen Zimmer mit drei Fenstern: einem Mansardenfenster nach Westen, einem Giebelfenster nach Norden und einem dreiteiligen Fenster in der Turmecke mit ein paar Bücherregalen darunter. Auf dem Boden lagen mehrere runde Teppiche und über das große Himmelbett war eine dicke, weiche Bettdecke gebreitet. Und stell dir vor, Gilbert, das Bett ist so hoch, dass man auf einem Trittschemel hinaufklettern muss! Sicher hat Captain MacComber dieses komische Ding von einer seiner Auslandsreisen mitgebracht.
Die Fächer des kleinen Eckschrankes waren mit weißen Häkelborten verziert und die Schranktüren mit altmodischen Blumenmustern bemalt. Im »Turm« gab es einen gemütlichen Fensterplatz mit einem dicken blauen Kissen darauf. Goldgelb fiel das Licht von draußen durch die Vorhänge herein und auf den herrlichen Wandteppichen tanzten die Schatten der Weiden - es war, als ob sie lebten. Irgendwie war es ein fröhliches Zimmer. Ich kam mir vor wie das reichste Mädchen der Welt.
»Immerhin bist du dort sicher«, stellte Mrs Lynde nüchtern fest, als wir wieder gingen.
»Ich fürchte nur, mit der Freiheit ist es hier vorbei«, sagte ich, um sie zu necken.
»Freiheit!«, schnaubte Mrs Lynde. »Freiheit! Sprich nicht wie ein Yankee, Anne.«
Heute brachte ich dann mein Gepäck hierher. Dabei war mir dann doch etwas komisch zu Mute. Auch wenn ich noch so oft und lange fort bin, ich gehöre doch wieder zu Green Gables, sobald ich da bin. Aber wenn ich Ferien habe, dann wird es sein, als sei ich nie weg gewesen. Trotzdem - der Abschied tat weh. Aber ich weiß, dass ich mich in diesem Haus wohl fühlen werde, ich habe es schon lieb gewonnen. Der Ausblick aus meinen Fenstern ist herrlich - auch auf den alten Friedhof mit den vielen dunklen Tannen. Von meinem Westfenster aus kann ich den ganzen Hafen überblicken bis hin zu den weit entfernten Ufern und all die kleinen Segelboote und die Schiffe beobachten. Vom Nordfenster aus schaue ich direkt auf das Birken- und Ahornwäldchen auf der anderen Straßenseite. Bäume haben für mich etwas Faszinierendes, weißt du. Unterhalb dieses Wäldchens liegt ein liebliches Tal, durch das sich wie ein rotes Band eine kleine Straße schlängelt, die von weißen Häusern umsäumt ist. Allein der Anblick dieses Tals macht mich immer froh. Weiter entfernt liegt ein blauer Hügel, den ich »Sturmkönig« genannt habe.
Hier oben genieße ich das Alleinsein. Die Winde sind meine Freunde. Sie heulen und seufzen und singen leise um den Turm herum: der weiße Winterwind, der grüne Frühlingswind, der blaue Sommerwind, der purpurrote Herbstwind und der Sturm, den jede Jahreszeit kennt.
Wenn wir irgendwann einmal unser »Traumhaus« finden, mein Liebster, dann hoffe ich, dass mich der Wind dorthin begleitet. Manchmal überlege ich, wo es wohl steht, unser unbekanntes Haus? Wie wird es wohl aussehen, dieses Zuhause, in dem Liebe, Freundschaft und Arbeit auf uns warten -und eine Menge lustige Erlebnisse für unsere alten Tage. Glaubst du, dass wir jemals alt werden, Gilbert? Ich kann es mir nicht vorstellen!
Vom linken Turmfenster aus kann ich die Dächer der Stadt sehen, in der ich jetzt mindestens ein Jahr lang bleiben werde, in den Häusern wohnen Menschen, die vielleicht bald meine Freunde werden. Vielleicht auch meine Feinde. Denn angenehme Menschen der Sorte Pye gibt es überall, sie heißen nur immer anders. Es sieht fast so aus,
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