Anne in Windy Willows
nicht, dass Kate so wenig spricht. So ist sie eben. Dabei hätte sie so viel zu erzählen: In jungen Jahren ist sie mit Amasa MacComber in der ganzen Welt herumgereist. Ich wünschte, ich hätte auch so viel erlebt und könnte darüber berichten, aber ich bin nie über E.P. Island hinausgekommen. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist - ich rede gern, habe aber nichts zu erzählen, und Kate hat so viel zu erzählen, redet aber nicht gern. Doch die Natur will es nun mal so.« Damit beendete Tante Chatty ihren endlosen Monolog. Sie ist sehr redselig, lässt aber auch mich zwischendurch zu Wort kommen. Trotzdem, ich mag sie.
Die Witwen halten eine Kuh auf der Weide von Mr Hamilton, der ein Stück weiter die Straße hinauf wohnt, und Rebecca Dew geht täglich zum Melken auf die Weide. Die Milch gibt jede Menge Rahm her, und jeden Morgen und jeden Abend geht Rebecca Dew zu der alten Tür in der Gartenmauer und reicht Mrs Campbeils Haushälterin ein Glas frische Milch hinüber. Sie ist für die »kleine Elizabeth«; der Doktor hat ihr Milch verordnet. Ich kenne die beiden selbst noch nicht; ich weiß nur, dass Mrs Campbell die Besitzerin und Bewohnerin des Herrenhauses nebenan ist. Es heißt Evergreens.
Gilbert, ich glaube, heute Nacht kann ich nicht schlafen. Die erste Nacht in einem fremden Bett kann ich nie schlafen, und dieses Bett hier ist besonders fremd. Aber es macht mir nichts aus, ich werde eben wach liegen und ein bisschen über das Leben nachdenken. Besonders über die Zukunft.
Das war ein unbarmherzig langer Brief, Gilbert, so einen langen Brief werde ich dir nicht noch einmal zumuten. Aber ich wollte dir einfach alles erzählen, damit du dir meine neue Umgebung genau vorstellen kannst. Mittlerweile sinkt der Mond in den Hafen. Und ich muss noch einen Brief an Marilla schreiben. Übermorgen wird er in Green Gables ankommen, Davy wird ihn auf der Post abholen und er und Dora werden sich um Marilla drängen, wenn sie den Brief öffnet und vorliest, und Mrs Lynde wird beide Ohren weit aufsperren .. .
Oh - oh! Jetzt hat mich das Heimweh gepackt. Gute Nacht, mein Liebster, für immer und ewig
deine Anne Shirley
Kapitel 2
Ausschnitte aus verschiedenen Briefen, die Anne an Gilbert schrieb
26. September
Weißt du, wo ich immer hingehe, um deine Briefe zu lesen? In ein kleines Tal im Wald gegenüber von Windy Willows. Ein kleiner Bach schlängelt sich dahin, umgeben von Farn. Dort sitze ich auf einem moosbewachsenen Baumstamm mitten unter jungen Birken. Ich genieße jedes Mal die Stille in diesem Wald. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viele verschiedene Arten von Stille es gibt, Gilbert? Die Stille des Waldes, des Ufers, der Wiesen, der Nacht, und die Stille eines Sommernachmittags. Der gedämpfte Ton im Hintergrund macht die Verschiedenartigkeit aus. Ich glaube, selbst wenn ich die Augen schließen würde, die Stille um mich herum würde mir doch sagen, wo ich bin.
Ich unterrichte jetzt seit zwei Wochen und bin bislang ganz gut zurechtgekommen. In einem hatte Mrs Braddock allerdings Recht: Die Pringles sind mein Problem. Wie ich es lösen soll, weiß ich noch nicht - trotz des Glücksklees. Sie sind genau, wie Mrs Braddock sie beschrieben hat: hinterhältig und aalglatt. Außerdem stellen sie wirklich einen Clan dar, in dem jedes Familienmitglied jeden im Auge behält. Untereinander geht es manchmal ganz schön her, aber Fremden gegenüber halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Summerside aus zwei Parteien besteht - den Pringles und den Nicht-Pringles.
Mein Klassenzimmer wimmelt von Pringles, und es gibt außerdem noch genug Studenten, die zwar nicht so heißen, aber zumindest pringliches Blut in sich haben. Der Anführer der ganzen Sippe ist anscheinend Jen Pringle, ein grünäugiger Frechdachs. Ich glaube, sie hat insgeheim eine Kampagne der Aufsässigkeit und Respektlosigkeit gegen mich gestartet, gegen die ich kaum ankomme. Sie hat ein unwahrscheinliches Talent im Grimassenschneiden. Wenn ich hinter meinem Rücken ein allgemeines unterdrücktes Prusten höre, dann weiß ich schon, wer dahintersteckt. Allerdings habe ich sie noch nicht auf frischer Tat ertappen können. Sie hat Köpfchen, das muss man der kleinen Hexe lassen. Das Mädchen ist hervorragend im Aufsatzschreiben und - o Jammer - auch in Mathematik. Sie sprüht förmlich über vor Begabung und hat außerdem noch einen ausgeprägten Sinn für Humor. Wenn sie nicht aus irgendeinem
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