Anne in Windy Willows
hätten etwas gegen Sie.«
»Warum sollten sie?«, rief ich aus. »Sie kennen mich doch überhaupt nicht.«
»Nun, ein Cousin dritten Grades aus der Sippe hatte sich auch um die Rektorenstelle beworben und alle sind der Meinung, er hätte die Stelle bekommen müssen. Als sie hörten, dass Sie bevorzugt wurden, veranstaltete die ganze Bande einen Riesenaufstand. So sind die Leute eben. Man muss sie nehmen, wie sie sind. Sie werden furchtbar freundlich tun, aber in Wirklichkeit alles Mögliche gegen Sie unternehmen. Ich will Sie bestimmt nicht entmutigen, aber es ist besser. Sie wissen von vornherein Bescheid. Ich hoffe, Sie schaffen es, und sei es nur, um die Sippe zu ärgern. Übrigens, falls die Witwen Sie nehmen, würde es Ihnen doch nichts ausmachen, mit Rebecca Dew zusammen zu essen? Sie ist eigentlich kein Dienstmädchen, wissen Sie, sondern eine entfernte Cousine des Captains. Bei gesellschaftlichen Anlässen zieht sie sich von selbst zurück, aber bei Ihnen als Pensionsgast wäre das natürlich etwas anderes.«
Ich versicherte Mrs Braddock, dass es mir eine Freude sein würde, mit Rebecca Dew zu essen, und zog Mrs Lynde fort. Ich musste dem Bankier zuvorkommen.
Mrs Braddock folgte uns beim Hinausgehen. »Und sehen Sie zu, dass Sie Tante Chattys Gefühle nicht verletzen, ja?«, schärfte sie mir ein. »Sie ist sehr empfindlich, müssen Sie wissen. Sie hat nicht so viel Geld wie Tante Kate - obwohl auch Tante Kate nicht viel hat. Tante Kate liebte ihren Mann, Tante Chatty den ihren hingegen nicht. Kein Wunder! Lincoln MacLean war ein alter Griesgram und sie bildet sich noch heute ein, dass die Leute sie deswegen nicht mögen. Gut, dass heute Samstag ist. An einem Freitag würde Tante Chatty nicht im Traum daran denken, Sie zu nehmen. Man würde eher Tante Kate für abergläubisch halten, wo doch ihr Mann bei der Marine war. Aber nein, es ist Tante Chatty, obwohl ihr Mann Zimmermann war. Sie war sehr hübsch damals.«
Ich versicherte Mrs Braddock, Tante Chattys Gefühle würden mir hoch und heilig sein, aber sie ließ immer noch nicht von uns ab.
»Kate und Chatty werden bestimmt nicht in Ihren Sachen herumschnüffeln, während Sie weg sind«, beruhigte sie mich. »Sie wissen, was sich gehört. Außer Rebecca vielleicht, aber die würde Stillschweigen. Und noch ein Rat: Benutzen Sie besser nicht die vordere Tür, die wird nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt. Das letzte Mal, glaube ich, bei Amasas Begräbnis. Gehen Sie durch die Seitentür. Der Schlüssel liegt auf dem Fensterbrett unter dem Blumentopf, falls niemand zu Hause ist. Sie können ruhig aufschließen und drinnen warten. Und vermeiden Sie möglichst, dem Kater zu schmeicheln, Rebecca mag ihn nämlich nicht.«
Ich versprach, dem Kater nicht zu schmeicheln, und endlich konnten wir ihr entrinnen. Es dauerte nicht lange, bis wir Spook's Lane erreicht hatten. Es ist nur eine kurze Seitenstraße, die direkt aufs freie Feld und zu einem blau schimmernden Hügel in der Ferne führt. Die eine Straßenseite ist unbebaut und fällt zum Hafen hin ab. Auf der anderen Seite stehen nur drei Häuser. Über das erste gibt es nicht viel zu sagen. Das zweite ist eine stattliches, düsteres Herrenhaus aus rotem Backstein, mit vielen Fenstern im Mansardendach und einem Eisengeländer ganz oben. Im Garten stehen so viele Fichten und Tannen, dass das Haus kaum zu sehen ist. Drinnen muss es schrecklich dunkel sein. Und das dritte und letzte ist Windy Willows, gleich an der Ecke. Vorne führt die grasbewachsene Straße vorbei und hinten eine richtig schöne Landstraße unter schattigen Bäumen.
Ich habe mich sofort in dieses Haus verliebt. Weißt du, es gibt Häuser, zu denen man sich auf den ersten Blick hingezogen fühlt, ohne eigentlich zu wissen, warum. Es ist ein weißes Holzhaus mit dunkelgrünen Fensterläden. An einer Ecke steht ein Turm und beide Seiten haben ein Mansardenfenster. Zur Straße hin wird das Grundstück von einer niedrigen Steinmauer begrenzt, mit einer Reihe Weiden davor. Hinter dem Haus gibt es einen Garten, wo Blumen und Gemüse kunterbunt durcheinander wachsen. Du ahnst nicht, wie schön es ist, und es erinnert mich irgendwie an Green Gables.
»Das ist es, es war Vorsehung!«, rief ich voll Begeisterung. Aber Mrs Lynde sah aus, als ob sie nicht an Vorsehung glaube. »Du wirst einen weiten Weg bis zur Schule haben«, sagte sie zweifelnd.
»Das macht mir nichts aus. Es hält mich auf Trab. Sieh mal den kleinen Wald da drüben mit den
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