Anne Rice - Pandora
»Verschwinde aus Antiochia«, sagte er. »Es ist mir egal, was du über mich denkst oder was ich tun musste, um mich und Priscilla zu retten. Hau ab aus Antiochia!«
Es gab keine Worte, um auszudrücken, wie ich ihn fand. Mein Urteil war härter, als meine Seele ertragen konnte.
Er entfernte sich von mir und eilte in die Dunkelheit, in der er verschwand, noch ehe er den Säulengang erreicht hatte. Ich horchte auf seine Schritte, wie sie auf der Stra-
ße widerhallten.
»Gütiger Himmel!«, flüsterte ich. Ich war den Tränen nahe. Doch meine Hand lag immer noch an dem Dolch.
Ich drehte mich um. Der Priester und Flavius standen viel näher als befohlen. Völlig verdutzt blieb ich stehen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
»Kommt sofort in den Tempel«, sagte der Priester.
»Gut«, sagte ich. »Flavius, du kommst mit mir, halt Wache zusammen mit den Fackelträgern. Du sollst bei den Tempelwächtern bleiben, und hab ein Auge auf diesen Mann.«
»Wer ist das, Herrin?«, flüsterte Flavius, als ich auf den Tempel zuschritt, beide im Schlepptau.
Wie königlich er aussah! Er hatte die Aura eines freien Mannes. Und seine Tunika war aus schöner, feiner Wolle, mit goldenen Streifen und einem goldenen Gürtel, und schmiegte sich eng an seine Brust. Selbst die elfenbeinerne Prothese hatte er poliert. Ich war mehr als zufrieden. Aber war er auch bewaffnet?
Hinter seinem ruhigen Auftreten verbarg sich der feste Wille, mich zu beschützen.
In meinem Kummer fehlten mir die Worte, um ihm zu antworten.
Inzwischen eilten immer wieder Sklaven mit Sänften auf den Schultern kreuz und quer über den Marktplatz, zusammen mit anderen, die Fackeln trugen. Eine Art sanftes Glühen umgab dieses Treiben. Die Leute waren nun unterwegs zu Abendgesellschaften oder privaten Zeremonien. Auch im Tempel war etwas los.
Ich wandte mich an den Priester. »Ihr werdet über meinen Sklaven und die Träger wachen?«
»Ja, Herrin«, sagte er.
Nun war es vollkommen Nacht geworden. Eine sanfte Brise wehte. Unter den langen Säulengängen waren einige Lampen entzündet worden. Wir näherten uns den Kohlenpfannen der Göttin.
»Ich muss dich jetzt allein lassen«, sagte ich. »Du hast die Erlaubnis, mein Eigentum bis zum Tod zu verteidigen, wie du es vorhin so eloquent angeboten hast. Rühr dich nicht von diesen Portalen fort. Ohne dich werde ich nicht fortgehen. Ich werde nicht lange bleiben. Das habe ich nicht vor. Aber hast du ein Messer bei dir?«
»Ja, Herrin, doch es ist unbenutzt. Ich fand es unter Euren Sachen, und als Ihr nicht nach Hause kamt und es dunkel wurde …«
»Erzähl keine langen Geschichten«, unterbrach ich ihn.
»Du hast ganz richtig gehandelt. Du wirst vermutlich immer das Richtige tun.«
Ich stellte mich mit dem Rücken zum Platz und sagte:
»Zeig mir das Messer. Ich will sehen, ob es nur Zierrat oder scharf ist.«
Als er es aus der Scheide an seinem Unterarm zog, be-rührte ich die Klinge mit dem Finger, Blut quoll aus der Schnittwunde. Ich gab es ihm zurück. Es hatte meinem Vater gehört. So hatte also mein Vater nicht nur seine Reichtümer, sondern auch seine Waffen in meine Truhen gelegt, damit ich überleben möge. Flavius und ich tauschten einen langen Blick.
Der Priester wurde langsam nervös. »Herrin, bitte, tre-tet ein«, bat er.
Er geleitete mich durch die großen Tore ins Innere des Tempels, wo ich auf den Priester und die Priesterinnen vom Nachmittag traf.
»Ihr wollt etwas von mir?«, fragte ich sie. Der Atem stockte mir. Ich fühlte mich schwach. »Ich habe viel zu bedenken, Dinge, die zu tun sind. Kann das hier nicht warten?«
»Nein, Herrin, das kann es nicht!«, antwortete der Priester.
Ich spürte einen Schauer in den Gliedern, als würde ich beobachtet. Die weitläufigen Schatten des Tempelinne-ren verbargen zu viel.
»In Ordnung«, sagte ich. »Es geht um diese schrecklichen Träume, nicht wahr?«
»Ja«, sagte der Priester, »und um mehr als das.«
6
Wir wurden in ein Gemach geführt, das nur von einem einzelnen Licht spärlich erhellt war.
In dem flackernden Schein konnte ich nicht viel erkennen, nicht einmal die Gesichter meiner Begleiter sah ich deutlich. Ein orientalischer Wandschirm aus geschnitztem Ebenholz trennte den hinteren Teil des Raumes ab, und ich hatte das sichere Gefühl, dass sich dahinter jemand verbarg.
Aber mein Gefühl sagte mir auch, dass alle hier im Raum mir nur Freundlichkeit entgegenbrachten. Ich schaute mich um. Die Sache mit meinem Bruder machte
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