Anne Rice - Pandora
diese Schenke, in der die Jungen verkehren, vielleicht einen neuen Aristoteles oder Plato hervorbringen wird, dennoch ist sie kein geeigneter Ort für Euch.«
»Ich weiß das«, beruhigte ich ihn. »Habt keine Sorge.«
Der Lehrer beäugte den Priester und auch den gut aussehenden Flavius misstrauisch. Ich legte meinen Arm um Flavius’ Taille. »Dies ist mein Haushofmeister, der Euch an dem Abend, an dem Ihr kommt, willkommen heißen wird. Habt Dank, dass ich Eure Lehren unterbrechen durfte. Ihr seid sehr freundlich.«
Das Gesicht des Gelehrten verhärtete sich. Er beugte sich zu mir. »Dort unter dem Portiko steht ein Mann; schaut jetzt nicht hin, aber Ihr braucht mehr Sklaven zu Eurem Schutz. Diese Stadt ist in zwei Lager geteilt und gefährlich.«
»Ja, dann seht Ihr ihn also auch. Und seine großartige Toga, das Zeichen seiner edlen Geburt!«
»Es wird dunkler«, warf Flavius ein. »Ich will noch ein paar Fackelträger mieten und eine Sänfte. Gleich dort drüben.«
Er dankte dem Lehrer, der sich widerstrebend zurückzog.
Der Priester! Er wartete immer noch. Flavius winkte zwei weiteren Fackelträgern, die langsam herantrotteten, um sich uns anzuschließen. Nun hatten wir reichlich Licht.
Ich wandte mich an den Priester. »Ich werde sofort zum Tempel kommen, doch zuerst muss ich mit dem Mann da hinten reden! Mit dem dort im Schatten.« Ich zeigte deutlich sichtbar mit dem Finger auf ihn. Ich war von Licht übergossen. Ich hätte ebenso gut auf einer Bühne stehen können.
Die ferne Gestalt krümmte sich und versuchte mit der Mauer zu verschmelzen.
»Warum?«, fragte Flavius mit etwa so viel Demut, wie sie ein römischer Senator besaß. »Mit dem Kerl ist etwas faul. Er lungert herum. Der Lehrer hatte Recht.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. In meinen Ohren klang das schwache Echo eines Frauenlachens! Ihr Götter, ich musste wenigstens so lange bei Verstand bleiben, bis ich mein Haus erreicht hatte! Ich schaute zu Flavius. Er hatte das Lachen nicht gehört.
Es gab einen sicheren Weg, die Sache anzugehen. »Ihr Fackelträger da«, sprach ich die vier Männer an, »ihr kommt alle mit mir. Und du, Flavius, bleibst hier bei dem Priester und beobachtest, wie ich diesen Mann begrüße.
Ich kenne ihn. Komm nur, wenn ich dich rufe.«
»Oh, mir gefällt das nicht«, sagte Flavius.
»Mir auch nicht«, fiel der Priester ein. »Im Tempel wartet man auf Euch, Herrin, und wir haben viele Wächter, die Euch nach Hause begleiten können.«
»Ich werde Euch nicht enttäuschen«, sagte ich und schritt Meter für Meter über den gepflasterten Platz direkt auf die in ihre Toga gewickelte Gestalt zu, während die Fackeln mich umloderten.
Der Mann mit der Toga fuhr heftig zusammen, dann entfernte er sich ein paar Schritte von der Mauer.
Ich blieb kurz vor dem Säulengang stehen.
Er sollte nur näher kommen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren. Die Flammen der vier Fackeln wehten in der Brise. Jeder im Umkreis konnte uns sehen. Wir bildeten den hellsten Fleck auf dem Forum.
Der Mann kam näher. Zuerst langsam, dann beschleu-nigte er seine Schritte. Das Licht fiel auf sein Gesicht. Es war wutverzerrt.
»Lucius«, flüsterte ich. »Ich sehe dich, aber ich kann nicht glauben, was ich sehe.«
»Ich auch nicht«, entgegnete er. »Was, beim Hades, treibst du hier?«, sagte er zu mir.
»Wie bitte?« Ich war zu verblüfft, um zu antworten.
»Unsere Familie ist in Rom in Ungnade gefallen, und du stellst dich hier mitten in Antiochia zur Schau! Sieh dich mal an! Bemalt und parfümiert und das Haar geölt!
Du bist eine Hure!«
»Lucius«, rief ich. »Was, im Namen der Götter, denkst du dir? Unser Vater ist tot! Deine Brüder sind wahrscheinlich tot. Wie bist du entkommen? Warum freust du dich nicht, mich zu sehen? Warum nimmst du mich nicht mit in dein Haus?«
»Mich freuen, dich zu sehen?«, zischte er. »Wir sind hier untergetaucht, du Hexe!«
»Wie viele von euch? Wer? Was ist mit Antonius? Und was ist mit Flora geschehen?«
Er grinste höhnisch vor Wut.
»Sie wurden alle ermordet, Lydia, und wenn du dich nicht in einen sicheren Winkel verkriechst, wo dich kein umherreisender Römer finden kann, bist du auch bald tot. Ach, dass du hier auftauchen musstest mit deinen philosophischen Sprüchen! In den Schenken reden sie schon alle über dich! Und dann dieser Sklave mit seinem künstlichen Bein! Ich habe dich heute Mittag gesehen, du verfluchte, elende Nervensäge. Der Dämon soll dich holen, Lydia!«
Das
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