Anne Rice - Pandora
diese Worte gesagt? Hüte dich, denn man könnte dich mir fortnehmen, und ich will das nicht zulassen.
Ich war verstummt. Ich hielt die Hand des Lehrers freundschaftlich fest. Er dozierte über das Maßhalten im Leben. »Seht meine einfache Tunika«, sagte er. »Diese Jungen hier haben alle so viel Geld, dass sie sich damit zerstören könnten.« Die Jünglinge protestierten.
Ich nahm das alles nur schemenhaft wahr. Ich versuchte ihnen zuzuhören. Meine Blicke schweiften umher. Woher kam nur diese Stimme? Wer sprach diese Worte?
Wer befahl mich zu sich, und wer sollte den Raub versuchen?
Dann entdeckte ich zu meiner stummen Verwunderung einen Mann, der seine Toga über den Kopf gezogen hatte und mich beobachtete. Ich erkannte ihn sofort an seiner Stirn und seinen Augen. Und als er sich nun langsam davonmachte, erkannte ich auch seinen Gang.
Das war mein Bruder, der jüngste, Lucius, der, den ich heimlich verachtete. Er musste es sein. Und was für eine Hinterhältigkeit, dass er sich in die Schatten zurückzog, um nicht bemerkt zu werden.
Ich erkannte alles an ihm. Lucius. Am Ende des langen Säulengangs wartete er.
Ich konnte mich nicht bewegen, und es wurde immer dunkler. Alle Händler waren schon fort; sie hatten ihre Stände nur tagsüber geöffnet. Vor den Tavernen wurden Laternen oder Fackeln aufgehängt. Ein einzelner Buchhändler hatte noch geöffnet und unter den Lampen eine große Auswahl an Schriften ausgestellt.
Lucius – mein verhasster jüngster Bruder – lief nicht auf mich zu, um mich mit Tränen in den Augen zu begrüßen, sondern schlüpfte in die Dunkelheit des Säulengangs.
Warum?
Ich fürchtete, ich kannte den Grund.
Währenddessen bettelten die jungen Männer, ich möge sie doch in eine nahe gelegene Weinschenke begleiten, einem hübschen Plätzchen. Sie stritten sich schon, wer von ihnen mich dort zum Essen einladen dürfe.
Überlege gut, Pandora! Diese entzückende kleine Einladung stellte meinen Wagemut und meine Freiheit auf eine harte Probe. Und ich sollte mit diesen Jungen nicht in eine gewöhnliche Taverne gehen! Doch im Handum-drehen würde ich hier allein sein!
Auf dem Forum wurde es still. Die Feuer loderten vor den Tempeln. Doch dazwischen gab es große Räume von Dunkelheit. Der Mann mit der Toga wartete.
»Nein, ich muss jetzt hier verschwinden«, sagte ich.
Verzweifelt überlegte ich, wie ich an einen Fackelträger kommen könnte. Sollte ich es wagen, diese jungen Leute zu bitten, mich nach Hause zu begleiten? Ich sah, dass im Hintergrund ihre Sklaven auf sie warteten, einige zündeten schon ihre Fackeln oder Laternen an.
Aus dem Isis-Tempel tönte Gesang herüber.
Ich war es, die dich gerufen hat. Hüte dich … vor mir und meiner Absicht!
»Das ist Wahnsinn«, murmelte ich vor mich hin, während ich den Jünglingen, die nun zu zweit oder dritt da-vongingen, zum Abschied zuwinkte. Ich zwang mich zu einem Lächeln, zu freundlichen Worten.
Dabei warf ich Lucius’ Gestalt zornige Blicke zu. Er lungerte nun am Ende des Säulengangs herum, vor ein paar Türen, die schon zur Nacht geschlossen waren. Seine ganze Haltung wirkte heimlichtuerisch und feige.
Ganz plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter.
Ich schob sie sofort weg, um klarzumachen, dass ich solche Vertraulichkeit nicht duldete, und dann bemerkte ich einen Mann, der mir ins Ohr flüsterte:
»Der Priester vom Tempel bittet Euch zurückzukommen, Herrin. Er muss Euch dringend sprechen. Er wollte nicht, dass Ihr fortgeht, ohne mit ihm zu reden.«
Ich drehte mich um und fand einen Priester neben mir, mit dem ägyptischen Kopfputz und makellos weißem Leinen; um den Hals trug er ein Medaillon der Göttin.
Oh, dem Himmel sei Dank.
Doch ehe ich noch meine Fassung wiedererlangen oder antworten konnte, trat ein anderer Mann, der sein künstliches Bein schwer aufsetzte, kühn neben mich.
Zwei Fackelträger begleiteten ihn, so dass uns warmes Licht umfing.
»Wünscht meine Herrin mit dem Priester zu sprechen?«, fragte er.
Es war Flavius. Er hatte meine Anordnungen befolgt und trug nun die prächtige Kleidung eines hoch gestellten Römers, eine lange Tunika und einen losen Umhang. Als Sklave war ihm die Toga nicht erlaubt. Sein Haar war ordentlich geschnitten und sah genauso ansehnlich aus wie das eines freien Mannes. Er strahlte vor Sauberkeit und erschien ausgesprochen selbstsicher.
Marcellus, der Philosophielehrer, zögerte. »Edle Pandora, Ihr seid zugütig; ich darf Euch versichern, dass
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