Anne Rice - Pandora
mich so unglücklich und so ungeduldig, dass ich nicht einmal ein paar höfliche Worte zu Stande brachte.
»Bitte, vergebt mir«, sagte ich schließlich, »aber ich habe eine sehr dringliche Angelegenheit zu regeln, deshalb bin ich in Eile.« Ich machte mir inzwischen Sorgen um Flavius’ Sicherheit. »Ihr müsst Wachen zur Verstärkung zu meinem Sklaven hinausschicken, jetzt sofort.«
»Das ist schon geschehen, Herrin«, antwortete der Priester, den ich schon kannte. »Ich bitte Euch, bleibt und erzählt Eure Geschichte.«
»Wer ist dort«, ich zeigte in die Richtung, »hinter dem Wandschirm? Warum hat die Person sich verborgen?«
Das war sehr ungehobelt und respektlos, aber ich befand mich in Alarmstimmung.
»Es ist einer unserer treuesten Anhänger«, sagte der Priester, der mich am Nachmittag zum Allerheiligsten geführt hatte. »Er kommt häufig in der Nacht, um am Altar zu beten, und er spendet dem Tempel viel Geld. Er will nur hören, was wir zu besprechen haben.«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher. Sagt ihm, er solle herauskommen!«, verlangte ich. »Außerdem, was sollen wir denn besprechen?«
Ich war plötzlich wütend, weil ich dachte, sie hätten vielleicht mein Vertrauen missbraucht. Ich hatte ihnen zwar meinen richtigen römischen Namen verschwiegen und nur von meinem traurigen Schicksal erzählt, aber der Tempel war heilig.
Nervosität gesellte sich zu ihrer Freundlichkeit.
Eine in ihre Toga gehüllte Person von bemerkenswert großer Statur – wesentlich größer als mein Bruder – trat hinter dem Wandschirm hervor. Die Toga war, abgesehen von ihrer dunklen Farbe, das klassische Modell. Sie verdeckte das Gesicht des Mannes. Nur seine Lippen konnte man sehen.
Er flüsterte:
»Habt keine Furcht. Heute Nachmittag habt Ihr der Priesterschaft von Euren Blutträumen erzählt.«
»Das war ganz im Vertrauen«, sagte ich aufgebracht.
Ich war durch und durch misstrauisch, denn ich hatte diesen Leuten einiges mehr erzählt als nur von diesen Blutträumen.
Ich versuchte die Gestalt deutlicher zu erkennen. Irgendetwas an ihr kam mir sehr bekannt vor – die Stimme, trotz des Flüstertons … und noch etwas.
»Edle Pandora«, sagte die Priesterin, die mir früher am Tag so viel Trost gespendet hatte. »Ihr habt mir von einem alten, legendären Kult erzählt, den wir heute ablehnen und verdammen. Ein Kult zu Ehren unserer geliebten Mutter Isis, der einstmals auch Menschenopfer ein-schloss. Ich sagte Euch schon, dass wir so etwas verab-scheuen. Und das stimmt auch.«
»Dennoch«, sagte der Priester, »gibt es jemanden in Antiochia, der Blut von Menschen trinkt; er saugt es ihnen aus, bis sie tot sind. Dann wirft er ihre Körper vor Tagesanbruch auf unsere Stufen. Auf die Stufen unseres Tempels!« Er stieß einen Seufzer aus. »Herrin Pandora, ich vertraue Euch hier ein schreckliches Geheimnis an.«
Alle Gedanken an meinen grässlichen Bruder waren verflogen. Die Bestie der Träume überfiel mich mit ihrem Pesthauch. Ich versuchte meine fünf Sinne zusammen-zuhalten. Wieder dachte ich an die Stimme, die in meinem Kopf erklungen war: Ich bin es, die dich ruft. Das Frauenlachen.
»Nein, es war das Lachen einer Frau«, murmelte ich.
»Edle Pandora?«
»Ihr sagt, dass jemand in Antiochia umgeht, der Blut trinkt.«
»Bei Nacht. Am Tag ist er außer Stande«, sagte der Priester. Der Traum erstand vor meinen Augen, die aufgehende Sonne, und ich wusste, dass ich, die Bluttrinkerin, in den Strahlen der Sonne sterben würde.
»Ihr wollt behaupten, dass diese Bluttrinker meiner Träume tatsächlich existieren?«, fragte ich. »Dass einer von ihnen hier ist?«
»Zumindest möchte jemand, dass wir das glauben«, antwortete der Priester. »Wir sollen glauben, dass die alten Sagen wahr sind, doch wir wissen nicht, wer das ist.
Und wir trauen den römischen Behörden nicht über den Weg. Ihr wisst, was in Rom geschah. Ihr seid zu uns gekommen und habt von Träumen erzählt, in denen die Sonne Euch tötete, in denen Ihr Blut trankt. Herrin, ich missbrauche Euer Vertrauen nicht. Der dort –«, er deutete auf den hoch gewachsenen Mann, »das ist derjenige, der die alten Schriften lesen kann. Er hat die alten Sagen gelesen. Diese Sagen spiegeln sich in Euren Träumen.«
»Mir ist schlecht«, sagte ich, »ich muss mich setzen.
Ich habe Feinde, derentwegen ich mir den Kopf zerbre-chen muss.«
»Ich werde Euch vor Euren Feinden beschützen«, versprach der mysteriöse große Mann in der Toga.
»Wie wollt
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