Anne Rice - Pandora
wiederkomme, dann sei so weit vorbereitet, dass du die Stadt verlassen kannst!«, dräng-te er.
Und er entschwand.
Genauso war es: Er entschwand. Er war aus meinen Armen entschwunden und aus meinem Wohnzimmer und aus meinem Haus.
Ich wandte mich ab und wanderte langsam in dem schattigen Zimmer umher. Meine Augen glitten über die Wandmalereien, über die fröhlichen Gestalten mit ihren Lorbeerkränzen und Blätterkronen – Bacchus und seine Nymphen, recht sittsam verhüllt für eine ausschweifende Gesellschaft wie diese.
Flavius sprach. »Herrin, ich fand ein Schwert unter deinen Besitztümern, soll ich es bereithalten?«
»Ja sicher, und jede Menge Dolche und auch Feuer, vergiss das Feuer nicht. Er flieht vor dem Feuer.« Ich seufzte. Woher wusste ich das? Ich wusste es einfach.
So viel also dazu. »Aber, Flavius!« Ich drehte mich zu ihm um. »Er wird vor der Dunkelheit nicht kommen. Die Nacht ist fast vorbei. Wir können uns beide schlafen legen, sobald der Himmel sich rot färbt.« Ich legte die Hand an die Stirn. »Ich versuche gerade, mich zu erinnern …«
»An was, Herrin?«, fragte Flavius. Er wirkte nach dem Auftritt von Marius keineswegs weniger attraktiv, er war einfach ein Mann mit anderen Proportionen, aber ebenso gut aussehend und mit warmer menschlicher Haut.
»Ob die Träume jemals tagsüber kamen. War es immer nur in der Nacht? Ach, ich bin so müde, und sie rufen nach mir. Zünde in meinem Bad ein Licht an, Flavius. Ich gehe zu Bett. Ich schlafe fast im Stehen ein. Kannst du Wache halten?«
»Ja, Herrin.«
»Schau, die Sterne sind schon fast erloschen. Wie es wohl ist, wenn man zu ihnen gehört, Flavius, und nur in der Dunkelheit bewundert wird, wenn die Menschen bei Kerzen- und Lampenlicht leben. Wenn man nur in tiefster Nacht bekannt und bezeugt ist, sobald die ganze Geschäftigkeit des Tages ein Ende hat.«
»Ihr seid wirklich die einfallsreichste Frau, die ich kenne«, antwortete Flavius nur. »Wie Ihr diesen Mann, der Euch anklagte, seinem Richter ausgeliefert habt!« Er nahm mich beim Arm und führte mich zu dem Schlafzimmer, in dem ich mich am Morgen angekleidet hatte.
Ich empfand Liebe für ihn. Ein ganzes Leben voller Kri-sen hätte sie nicht stärker machen können.
»Ihr werdet nicht in dem großen Bett im Speisezimmer schlafen?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist für das Zeremoniell der Ehe da, und die werde ich nicht mehr kennen lernen. Ich wür-de gern baden, aber ich bin so müde.«
»Ich kann die Mädchen wecken.«
»Nein, ins Bett. Du hast eine Schlafkammer vorbereitet?«
»Ja!« Er ging voran.
Es war immer noch ziemlich dunkel. Ich dachte, ich hör-te ein Rascheln. Merkte aber, dass es nichts war.
Und da stand das Bett, mit einer kleinen Lampe, und auf dem Bett lagen Kissen über Kissen nach Art des Orients, ein weiches Nest, in das ich mich hineinfallen ließ.
Und sofort kam der Traum:
Wir, die Bluttrinker, standen in einem weiträumigen Tempel. Er war wohl dunkel. Wir konnten in der Dunkelheit sehen, so wie manche Tiere im Dunkeln sehen können. Wir waren alle bronzefarben oder sonnengebräunt oder golden. Wir waren alle Männer.
Auf dem Boden lag schreiend die Königin. Ihre Haut war weiß. Makellos weiß. Sie hatte langes schwarzes Haar. Ihre Krone bestand aus den Stierhörnern und der Sonne. Die Krone der Isis. Sie war die Göttin! Je fünf Bluttrinker mussten sie rechts und links niederhalten. Sie warf ihren Kopf hin und her, aus ihren Augen schien ein göttliches Licht zu sprühen.
»Ich bin eure Königin! Ihr könnt mir das nicht antun!«
Wie strahlend weiß sie war! Und ihre Schreie wurden immer verzweifelter und immer flehender. »Großer Osiris, errette mich davon! Bewahre mich vor diesen Gotteslä-
sterern! Bewahre mich vor den Gottlosen!«
Der Priester neben mir grinste höhnisch.
Der König saß bewegungslos auf seinem Thron. Aber zu diesem König hatte sie nicht gebetet. Ihr Gebet galt einem fernen Osiris.
»Haltet sie fester.« Und zwei weitere Männer kamen und hielten ihre Knöchel fest.
»Trink!«, befahl mir der Priester. »Knie nieder und trink von ihrem Blut. Ihr Blut ist stärker als alles Blut, das es auf Erden gibt. Trink!«
Sie weinte leise.
»Ungeheuer seid ihr, Dämonenbrut«, schluchzte sie.
»Ich werde nicht trinken«, sagte ich.
»Tu es! Du brauchst ihr Blut!«
»Nein, nicht gegen ihren Willen. Nicht so. Sie ist unsere Mutter Isis!«
»Sie ist unsere ›Urquelle‹ und unsere Gefangene.«
»Nein«, sagte ich.
Der
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