Anne Rice - Pandora
ich erblickte, einen Mann der Wüste mit einem lang herabhängenden Tuch um den Kopf, fragte ich:
»Wie spät ist es? Schon Mittag?«
»O nein, Herrin«, antwortete er. »Noch lange nicht.
Habt Ihr verschlafen? Da seid Ihr glücklich dran.« Er nickte und ging weiter.
Im Wohnraum brannte noch eine Lampe. Ich ging hinein und sah, dass sie auf dem Schreibpult stand, das die Dienerinnen für mich hergerichtet hatten.
Tinte stand da, und auch Federn waren vorhanden, ebenso frische Pergamentbögen.
Ich setzte mich hin und begann alles niederzuschreiben, was mir von den Träumen in Erinnerung geblieben war. Dabei musste ich meine Augen anstrengen, um bei dem trüben Lampenschein sehen zu können, war das Halbdunkel hier doch zu weit entfernt von dem Licht, das den frischen grünen Garten des Peristyls erfüllte.
Schließlich tat mir der Arm weh, so schnell kratzte meine Feder über das Pergament. Bis in die kleinste Einzelheit beschrieb ich den letzten Traum, die Fackeln, das Lächeln der Königin, wie sie mich zu sich herangewinkt hatte.
Dann war es geschafft. Die ganze Zeit hatte ich die vollen Seiten rings um mich zum Trocknen auf dem Boden abgelegt. Es ging keine Brise oder gar ein Wind, um sie zu gefährden. Ich sammelte sie ein.
Das Papierbündel fest an die Brust gepresst, ging ich bis an den Rand des Gartens, um den blauen Himmel zu betrachten. Blau und klar.
»Und du überspannst diese Welt«, sagte ich. »Und du bist unwandelbar, mit Ausnahme des einen Lichtes, das steigt und sinkt«, so sprach ich zum Himmel. »Dann kommt die Nacht mit ihren trügerischen, lockenden Bildern!«
»Herrin!« Hinter mir stand Flavius, noch ganz verschlafen. »Ihr habt kaum geschlafen. Ihr braucht Ruhe. Geht zurück ins Bett.«
»Hol mir meine Sandalen, beeil dich!«, sagte ich.
Und als er verschwand, tat ich das Gleiche – zum Eingangstor hinaus und im Eilschritt fort, so schnell ich konnte.
Auf halbem Weg zum Isis-Tempel merkte ich, wie un-angenehm es war, sich der schmutzigen Straße mit nackten Füßen auszusetzen. Auch dass ich immer noch die zerdrückten weißen Leinengewänder trug, in denen ich geschlafen hatte, fiel mir erst jetzt auf. Die offenen Haare flossen mir über den Rücken. Ich verlangsamte mein Tempo nicht.
Ich war in Hochstimmung. Nicht hilflos wie damals, als ich aus dem Haus meines Vaters floh. Nicht nervös und in höchster Gefahr wie gestern Nacht, als Lucius die rö-
mischen Soldaten auf mich gehetzt hatte.
Die Angst hatte mich nicht in ihren Klauen wie im Traum, als die Königin mich angelächelt hatte. Und ich zitterte auch nicht wie in dem Moment, in dem ich aufge-wacht war.
Ich lief immer weiter. Ein gewaltiges Drama hielt mich in seinem Bann. Ich würde es durchstehen bis zum letzten Akt.
Leute gingen an mir vorbei – morgendliche Arbeiter, ein alter Mann mit einem knotigen Stock. Ich bemerkte sie kaum.
Die Tatsache, dass ihnen meine unfrisierten, wehenden Haare und meine zerknitterte Kleidung auffielen, bereitete mir ein kleines diebisches Vergnügen. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn man sich von aller Zivilisation löste, sich nie wieder Sorgen über die Befestigung von Haarnadeln machte, wenn man im Gras schliefe und sich vor nichts fürchtete.
Nichts fürchten! Ach, das klang wunderbar in meinen Ohren.
Ich erreichte das Forum. An den Marktständen herrschte reger Betrieb; Scharen von Bettlern waren unterwegs.
Verhängte Sänften wurden in alle Richtungen getragen.
Unter den Bogengängen dozierten die Philosophen. Ich vernahm die lauten, merkwürdigen Geräusche, die von jedem Hafen der Welt ausgehen – herabfallende Schiffs-ladungen vielleicht, was wusste ich. Ich roch das Wasser des Orontes und hoffte, dass die Leiche von Lucius darin trieb.
Ich stieg die Stufen hinauf und betrat den Tempel der Isis.
»Den Hohen Priester und die Priesterin«, forderte ich.
»Ich muss sie sehen.« Vorbei an einer verwirrten, sehr züchtig aussehenden jungen Frau eilte ich in das Neben-gelass, in dem man zuerst mit mir gesprochen hatte. Kein Tisch. Nur das Ruhebett. Ich suchte also einen anderen Raum des Tempels auf. Ein Tisch. Pergamentrollen.
Ich hörte eilige Schritte. Die Priesterin kam auf mich zu.
Sie war schon für den Tag geschminkt, Perücke und Schmuck saßen perfekt. Ihr Anblick schockierte mich nicht.
»Seht mal«, sagte ich, »ich hatte wieder einen Traum.«
Ich zeigte auf die Blätter, die ich ordentlich übereinander auf den Tisch gelegt hatte. »Ich habe
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