Anne Rice - Pandora
Priester stieß mich vorwärts. Ich schlug ihn zu Boden. Dann schaute ich auf sie.
Sie sah mich so blicklos an, wie sie die anderen ansah.
Ihr Gesicht war fein gemeißelt und sorgfältig geschminkt.
Die Wut entstellte ihre Züge nicht. Sie sprach leise, mit hasserfüllter Stimme.
»Ich werde euch alle vernichten«, sagte sie. »Eines Morgens werde ich euch entkommen und in das Licht der Sonne treten, und ihr alle werdet verbrennen! Alle, wie ihr da seid, werdet ihr verbrennen! Ihr werdet alle verbrennen. So wie ich verbrenne! Denn ich bin die Urquelle.
Und das Böse in mir wird verbrennen, und es wird in euch allen für immer ausgelöscht sein. Komm her, du elender Grünschnabel«, wandte sie sich an mich. »Tu, was man dir sagt. Trink, und erwarte meine Rache!
Der Gott Amon Ra wird sich im Osten erheben, und ich werde ihm entgegenschreiten, und seine tödlichen Strahlen werden mich vernichten. Ich werde mich im Feuer opfern, um jeden von euch zu zerstören, der aus mir geboren und durch mein Blut verwandelt wurde! Ihr habgie-rigen, geilen Götter, die ihr die Macht, die wir besitzen, zu eurem eigenen Vorteil ausnutzt.«
Dann machte der Traum eine grauenhafte Verwandlung durch. Sie stellte sich auf ihre Füße. Sie wirkte jungfräulich und war mit reinen Gewändern angetan. Rings um sie loderten Fackeln auf – erst eine, dann zwei, dann drei und dann viele und immer noch mehr, als wären sie gerade angezündet worden, bis sie von Flammen umgeben war. Die Götter waren fort. Sie lächelte und winkte mir.
Sie neigte den Kopf; als sie zu mir aufsah, glänzte das Weiße in ihren Augen. Sie lächelte. Sie war listig.
Ich wachte schreiend auf.
Ich lag in meinem Bett. In Antiochia. Die Lampe brannte. Flavius hielt mich in den Armen. Das Licht fiel auf sein ausgestrecktes künstliches Bein; die geschnitzten Zehen glänzten.
»Lass mich nicht los, halt mich fest!«, keuchte ich.
»Mutter Isis! Halte mich! – Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nur ein paar Stunden«, antwortete er.
»Nein!«
»Doch, die Sonne ist gerade aufgegangen. Möchtet Ihr vielleicht hinausgehen und Euch in die warme Sonne legen?«
»Nein!«, schrie ich.
Er zog mich noch enger in seine warme, ach so tröstliche Umarmung. »Es war nur ein böser Traum, meine schöne Herrin«, sagte er. »Schließt die Augen, ich werde neben Euch schlafen, mit meinem Dolch hier.«
»O ja, bitte, bitte, Flavius. Lass mich nicht los. Halt mich fest«, weinte ich.
Als ich mich wieder niederlegte, kuschelte er sich an mich, seine Knie in meinen Kniekehlen, sein Arm auf meinem Körper.
Meine Augen öffneten sich. Ich hörte Marius’ Stimme wieder:
»Danke den Göttern, dass ich dich nicht begehre! Nicht genug, um für eine kurze, blutige Ekstase die Liebe zu verraten.«
»Oh, Flavius«, sagte ich. »Meine Haut! Ist meine Haut verbrannt?« Ich wollte mich aufrichten. »Mach das Licht aus. Mach die Sonne aus!«
»Nein, Herrin, Eure Haut ist so schön wie immer. Legt Euch wieder hin. Ich werde Euch etwas vorsingen.«
»Ja, sing …«, sagte ich.
Ich lauschte seinem Gesang, es war Homer, es waren Achilles und Hektor, und ich liebte die Art, wie er sang, die Pausen, die er machte, ich stellte mir jene Helden vor und die hohen Mauern des dem Untergang geweihten Troja. Meine Lider wurden schwer. Ich trieb dahin. Ich ruhte.
Er legte seine Hand auf meinen Kopf, als wollte er die Träume aussperren, als wäre er ein menschlicher Traum-fänger. Und ich seufzte, als er über mein Haar strich.
Ich stellte mir Marius vor, den Glanz seiner Haut. Der war so gewesen wie bei der Königin, und auch das Leuchten seiner Augen ganz wie das der Königin, und ich hörte ihn sagen: »Verdammt, Pandora, glaubst du, ich wollte, dass mein Leben vor seiner Zeit beendet wurde und meine Zukunft sich ins Unendliche erstreckt!«
Und es folgten, ehe mich das Bewusstsein verließ, die völlige Verzweiflung und das Gefühl von der Wertlosig-keit alles Strebens. Wären wir doch nicht mehr als wilde Tiere und wie die Löwen in der Arena.
8
Ich wachte auf und hörte die Vögel. Sicher war ich mir nicht, aber ich schätzte, es war noch Morgen, späterer Morgen. Barfuß ging ich in das angrenzende Zimmer und von dort ins Peristyl. Ich bewegte mich auf dem gepflasterten Rand der Erde und sah in den blauen Himmel.
Die Sonne war noch nicht so hoch gestiegen, dass ich sie direkt über mir hätte sehen können.
Ich entriegelte die Türen und ging barfuß zum Tor. Den ersten Mann, den
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