Anne Rice - Pandora
und eine Hüttenstadt mit Dächern aus Palmwedeln. Ich musste mich zwingen, meine Augen offen zu halten.
Der alte Mann sagte: »Das ist eindeutig das älteste Manuskript in ägyptischer Schrift, das ich je gesehen ha-be! Ganz ruhig, meine Liebe. Stützt Euch auf meine Schulter. Nehmt meinen Stuhl.«
»Nein, nicht nötig«, sagte ich, immer noch den Blick auf die Buchstaben geheftet. Ich las laut: »An meinen Herrn, Narmer, König von Ober- und Unterägypten; wer sind diese Feinde, die von mir behaupten, dass ich mich nicht redlich verhalte? Wann hätte Eure Majestät mich je un-redlich gefunden? In Wahrheit bemühe ich mich, immer mehr zu tun, als von mir erbeten oder erwartet wird.
Wann hätte ich wohl versäumt, jedes Wort des Angeklagten anzuhören, damit er gerecht beurteilt werde, wie auch Eure Majestät es täte …«
Ich brach ab. Mir schwirrte der Kopf. Eine kurze Erinnerung: Ich war ein Kind, wir gingen alle in das Gebirge oberhalb der Wüste, um Osiris, den blutdürstigen Gott, zu bitten, in das Herz des Übeltäters zu sehen. »Schau«, sagten meine Begleiter. Der Gott war ein Mann der Voll-kommenheit, bronzehäutig stand er im Mondlicht; er packte den Verurteilten und saugte ihm langsam das Blut aus. Neben mir flüsterte eine Frau, dass der Gott sein Urteil gefällt und die Strafe verhängt habe und dass das Blut des Missetäters nun zurückkehre, damit es gereinigt und in einem anderen wieder geboren werde, in dem es keinen Schaden mehr anrichten könne.
Ich versuchte, dieses Bild, dieses Gefühl erstickender Erinnerung zu verbannen. Flavius war sehr beunruhigt und hielt mich an den Schultern fest.
Ich befand mich zugleich in zwei Welten: Ich schaute hinaus in die gleißende Sonne, die auf die Steine des Forums niederbrannte, und lebte an einem anderen Ort, als ein junger Mann, der einen Hügel hinaufrannte und seine Unschuld beteuerte.
»Ruft den alten, blutdürstigen Gott! Er wird in das Herz meines Gemahls sehen und erkennen, dass der Mann lügt. Ich habe nie bei einem anderen gelegen.« Ach, du sanfte Dunkelheit, komm – sie sollte die Berge umfan-gen, denn am Tag schlief der blutdürstige Gott und verbarg sich, damit ihn Ra, der Sonnengott, nicht fand und aus Eifersucht vernichtete.
»Weil sie sie alle bezwungen hat«, flüsterte ich. Ich meinte die Königin Isis. »Flavius, halt mich fest.«
»Ich stütze Euch ja, Herrin.«
»Da!«, sagte der alte Mann, der sich erhoben hatte, und schob mir seinen Stuhl hin.
Unzählige Sterne gingen am nächtlichen Himmel Ägyptens auf. Ich sah sie ebenso deutlich wie diesen Laden in Antiochia am hellen Mittag. Beim Anblick der Sterne wusste ich, ich hatte gesiegt. Der Gott würde herrschen.
»Oh, bitte, tritt hervor, komm herab von diesem Berg, unser geliebter Osiris, und erforsche das Herz meines Gemahls und auch mein Herz, und wenn du mich im Unrecht findest, dann soll mein Blut dir gehören, ich gebe es dir zum Pfand.« Und er kam! Da war er, so wie ich ihn als Kind gesehen hatte, ehe die Priester des Ra den alten Kult verboten. »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit!«, rief das Volk. Der Mann, der mein Gemahl war, duckte sich ängstlich zusammen, als der Gott mit dem Finger des Richters auf ihn zeigte. »Gebt mir dieses üble Blut, und ich werde es aufsaugen«, sagte der Gott. »Und dann bringt mir wieder meine Opfergaben. Seid keine Feiglinge angesichts einer reichen Priesterschaft. Ihr steht vor einem Gott.«
Er zeigte auf jeden einzelnen Dorfbewohner und nannte seinen beziehungsweise ihren Namen. Ihr Gewerbe war ihm bekannt. Er konnte ihre Gedanken lesen! Als er die Lippen zurückzog, wurden seine Fangzähne sichtbar. Die Vision löste sich auf. Mein starrer Blick hing an ganz alltäglichen Gegenständen, als wären sie lebendig und gif-tig.
»Oh, ihr Götter«, seufzte ich ehrlich bekümmert. »Ich muss Marius finden. Und zwar auf der Stelle!« Wenn Marius dies hörte, würde er mich ins Vertrauen ziehen und mir die Wahrheit sagen. Er konnte gar nicht anders.
»Miete eine Sänfte für deine Herrin«, sagte der alte Buchhändler zu Flavius. »Sie ist erschöpft, und der Weg auf den Hügel ist zu lang!«
»Hügel?« Ich straffte mich. Dieser Mann wusste, wo Marius wohnte! Aber ich erschlaffte bald wieder, ließ den Kopf hängen und sagte mit einer matten Handbewegung:
»Bitte, guter Mann, beschreibt doch meinem Haushofmeister genau, wie man zu dem Haus kommt.«
»Aber gewiss. Ich kenne zwei Abkürzungen, eine ist ein bisschen
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