Annebelle - sTdH 2
Minerva mir einiges aus ihrer Garderobe lieh. Ein Glück,
daß Lady Godolphin so großzügig war. Nicht daß die Herzogin hochnäsig wäre, sie
gab mir ein Rezept für Shrewsbury-Kuchen, das besser ist als unseres. Und
sie ...«
»Aber was
ist mit Minerva?« unterbrach Annabelle ungeduldig.
»Oh,
Minerva scheint ganz an das vornehme Leben gewöhnt. Ich sage dir, sie wirkt,
als sei sie darin geboren. Nicht daß Lady Godolphin ihr viel an schicklichem
Benehmen hätte beibringen können – die Dame traf erst ein, als wir schon dort
waren, und ich war vollkommen schockiert. Sie putzt sich auf wie ein
Paradepferd und bringt alle Wörter durcheinander. Sie bezeichnete Lord Sylvester
doch dauernd als Minervas ›Finzi‹. Erst nach einer Weile kam ich
dahinter, daß sie ›fiancé‹ meinte. Die Herzogin stellt das Brautkleid,
was ein Segen ist. Es muß Tausende von Guineen gekostet haben. Echte Brüsseler
Spitzen auf weißem Satin und ein entzückender Hut aus Brüsseler Spitze mit
zwei Federn und ...«
»Mama«,
sagte Annabelle langsam und vorsichtig, »wo ist Minerva? Und warum ist
sie nicht zurückgekommen?«
»Deinetwegen, mein Liebes«, rief
Mrs. Armitage aus.
Annabelle
errötete plötzlich. Hatte Minerva am Ende ihre geheime Leidenschaft für Lord
Sylvester entdeckt?
Wie betäubt
hörte sie ihre Mutter fortfahren: »Minerva meinte, es wäre eine gute
Gelegenheit für dich, einen Besuch zu machen, einige passende junge Herren
kennenzulernen und dich an die große Welt zu gewöhnen, da du noch zu jung bist,
um eingeführt zu werden.«
»Ich bin
siebzehn!« protestierte Annabelle, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Sie
würde ihn wiedersehen!
»Um einige
junge Herren kennenzulernen«, fuhr Mrs. Armitage fort. »Die Diener des Herzogs
steigen im Gasthaus ab, und du sollst morgen reisen.«
»Morgen?
Ich habe nichts anzuziehen.«
»Nun, was
das betrifft, Lady Godolphin hat Minerva mit einer äußerst umfangreichen
Garderobe ausgestattet, und ihr habt die gleiche Größe. Eine schreckliche alte
Dame. Sie ist ja nur eine entfernte Verwandte von mir, eine Art Cousine, ich
weiß nicht, wievielten Grades. Ich muß allerdings sagen, daß es in dieser
Familie immer schwarze Schafe gab. Nun, ich bin müde von der Reise, und deine Sachen
müssen auch noch gepackt werden. Sag Betty« – Betty war das Dienstmädchen –,
»sie soll dir packen helfen und sich fertigmachen, mit dir zu reisen, da du ein
Mädchen brauchst. Dann setz deinen Hut auf und geh in Mr. MacDonalds Geschäft.
Suche ein paar Seidenbänder aus, die zu deinem blauen Samtmantel passen. Der
ist für eine Reise bei diesem Wetter genau richtig.«
Annabelle
versuchte, mehr über den Wohnsitz des Herzogs in Erfahrung zu bringen. Wer
hielt sich dort gegenwärtig auf, und wer waren diese jungen Männer, die sie
kennenlernen sollte? Aber Mrs. Armitage schloß die Augen und klagte in
wehleidigem Ton über ihre Kopfschmerzen. Annabelle mußte sich also damit
zufriedengeben, alle ihre Fragen für den Abend aufzusparen.
Der Tag war
stahlgrau und kalt, als sie auf das Dorf Hopeworth zuging. Wie Puderzucker lag
Schnee auf den Strohdächern der Häuser und in den gefrorenen Furchen des Weges.
Annabelles
Gemüt war in Aufruhr. Ihr stark ausgeprägtes Selbstvertrauen begann zu
schwanken, und sie empfand eine gewisse Furcht bei dem Gedanken, in Kürze so
vielen Vertretern der großen Gesellschaft zu begegnen. Welche Trinkgelder gab
man beispielsweise der Dienerschaft? Und gab man sie bei der Ankunft oder bei
der Abreise?
Aber
Minerva würde das wissen, dachte sie mit einem erleichterten Seufzer. Doch
direkt auf diesen angenehmen Gedanken folgte Zorn darüber, daß ihre Schwester,
ihre Rivalin, sehr genau wußte, wie man sich Mitgliedern der großen Welt
gegenüber zu verhalten hatte, sie selbst dagegen nicht.
Im Laden
von Mr. Macdonald war lebhafter Betrieb. Die jungen Gehilfen schwänzelten
geschäftig und erstaunlich leichtfüßig um die Theke; ihre Gesichter glänzten,
ihre Rockschöße flogen. Bauern und Landleute aus der Nachbarschaft standen
herum, strichen ihr Haar glatt und blickten schüchtern um sich, während sie
allen Mut zusammennahmen, um einen der flotten jungen Ladenhelfer nach den
Kurzwaren zu fragen, die sie ihren Frauen oder Töchtern mitbringen sollten.
Annabelle
sah sich gerade verschiedenfarbige Seidenbänder an, die in einer Schachtel
lagen, als zwei junge Stutzer das Geschäft betraten.
»Nun ja,
ich weiß, es ist alles äußerst
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