Annebelle - sTdH 2
Minerva. »Da können
wir in Ruhe plaudern. Lord Sylvester wird uns entschuldigen.«
Sie legte
den Arm um Annabelles Taille und führte sie die Treppe hinauf.
Annabelle
nahm nur nebelhaft die Herrlichkeit von Farben, Ornamenten und Gemälden wahr.
Auf dem Treppenabsatz wandte sie sich halb um und blickte hinunter in die
Halle. Ein Lakai mit einem großen Kandelaber ging gerade vorbei. Von Lord
Sylvester war nichts zu sehen.
Die Räume,
die Annabelle zugewiesen worden waren, bestanden aus einem Schlafzimmer, einem
angrenzenden Wohnzimmer und einem Puderkabinett, das man in ein kleines
Ankleidezimmer verwandelt hatte. Sie waren in reichen Gold- und Karmesintönen
ausgestattet. Ein Wandteppich aus dem siebzehnten Jahrhundert stellte den Tod
des Remus dar und bedeckte eine Wand des Schlafzimmers.
Annabelle
berichtete atemlos von den Neuigkeiten aus der Pfarrei, während Minerva Betty
beim Auspacken half. Dann zog sie ihre Stiefel aus und ein Paar geknöpfte
Slipper an und wärmte ihre Zehen am Kamin. Zum erstenmal sah sie Minerva
richtig an und verspürte einen Stich von Eifersucht.
Minerva
trug ein klassisches, hochtailliertes Kleid in Blaßrosa, das am Hals
geschlossen und mit einer Musselinkrause verziert war. Der Rock ohne Schleppe
war knöchellang und hatte einen leicht gebauschten Saum, der mit spanischer
Borte besetzt war. Die langen, engen Ärmel des Kleides endeten in
Musselinkrausen um die Handgelenke. Minervas schwarzes Haar war à la Titus frisiert;
kunstvoll gelockte Wellen umrahmten die Stirn. Ihre grauen Augen wirkten fast
silbern, und ihre Wangen waren leicht gerötet.
»Neben dir
fühle ich mich wie ein Bauerntrampel«, sagte Annabelle mit ziemlich schrillem
Lachen. »Mama sagte, du würdest mir ein paar Kleider leihen, Minerva. Bitte,
laß mich deine Garderobe anschauen. Ich muß so gut wie möglich aussehen. Und
wer sind diese Herren, die ich kennenlernen soll?«
Minerva
entließ Betty in die Dienstbotenzimmer, schloß sanft die Tür hinter ihr und
setzte sich dann ziemlich ernst Annabelle gegenüber.
»Ja, du
kannst dir von meinen Kleidern aussuchen, was du möchtest«, sagte sie, »und
über unsere anderen Gäste werde ich dir auch gleich berichten. Aber zuerst muß
ich dir etwas erklären. Die Umgangsformen des haut ton sind nicht sehr
verschieden von unseren. Man muß jederzeit daran denken, bescheiden und
gefällig zu sein und nicht zuviel zu reden.«
Hier
seufzte Annabelle laut und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Kaminvorsatz.
»Halt doch keine solchen Vorträge, Merva«, sagte sie.
»Weder Papa
noch Mama sind hier, also muß ich sie vertreten«, erwiderte Minerva streng.
»Ich muß dir daher sagen, daß dein Benehmen bei deiner Ankunft schändlich
war.«
»Mach doch
nicht so einen Wind darum«, sagte Annabelle hitzig. »Ich habe es ja erklärt. Ich war froh, nach der ermüdenden Reise heil angekommen zu sein. Und
außerdem wird Sylvester mein Schwager ...«
»Lord Sylvester für dich, mein Fräulein.«
Annabelle
grinste plötzlich. »Du bist eifersüchtig, Merva«, sagte sie.
»Nein«,
antwortete Minerva kühl, »du tust mir unrecht. Was Lord Sylvester angeht, habe
ich keinerlei Grund zur Eifersucht.«
Minerva
wirkte so vollkommen selbstsicher und gelassen, daß Annabelle zum erstenmal
etwas wie Zweifel empfand. Könnte es sein, daß Lord Sylvester Minerva wirklich
liebte?
»Du bist
noch sehr jung, Bella«, sagte Minerva. »Vielleicht war es falsch, daß ich diese
Einladung für dich arrangiert habe.«
»Nein!«
rief Annabelle atemlos; sie erkannte, daß sie zu weit gegangen war. Sie
erinnerte sich, wie der Vikar mit der Pferdepeitsche gedroht hatte. »Es tut
mir wirklich leid, daß ich mich so kindisch benommen habe, Merva. Bitte sag,
daß du mir verzeihst.«
Nun, die
frühere Minerva hätte prompt ein edles Gesicht gemacht und die Entschuldigung
auf der Stelle angenommen. Doch diese neue, ausgeglichene, merkwürdig
veränderte Schwester antwortete nur: »Nun, wir werden sehen, wie du dich weiter
benimmst. Du wolltest etwas über die jungen Herren wissen. Sie sind alle ein
bißchen zu alt für dich, so um die Zwanzig, doch ich dachte, du würdest hier
Gelegenheit
haben, zu lernen, wie sich die anderen jungen Damen benehmen.«
»Andere junge Damen?«
»Ja, wir
sind nicht ohne Konkurrenz«, lächelte Minerva. »Ich sollte dir die Namen aller
sagen, die du kennenlernen wirst. Da sind natürlich der Herzog und die
Herzogin von Allsbury; Lord Sylvesters älterer Bruder,
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