Annies Entscheidung
Schaufenster war der Bürgersteig noch trocken, aber am Horizont hingen dunkle Wolken und schreckten mögliche Kunden vom Festland ab. Keine Frage, bald würde das Gewitter die Insel erreicht haben.
Auf Turnabout Island nieselte es oft, das ideale Klima für die Felder, auf denen das wuchs, was Island Botanica verarbeitete. Aber so finster wie seit einigen Tagen war der Himmel schon lange nicht mehr gewesen.
Die ersten schwarzen Wolken waren zusammen mit Riley aufgetaucht. Seitdem wurde Annie von einer Mischung aus Angst, Nervosität und Erleichterung beherrscht. Ihre Nichte war von zu Hause weggelaufen, aber anstatt zu verschwinden, war sie zu ihrer Tante gekommen.
Und Annie wusste noch immer nicht, warum das Mädchen hier war.
Sie drehte das Staubtuch, als würde sie es auswringen wollen, und wandte sich zur Tür, als die leise, helle Glocke einen Kunden ankündigte. Kaum hatte ihr Blick die hohe Gestalt mit dem schimmernden braunen Haar erfasst, da kam Riley nach vorn.
„Tante Annie, ich habe die Kiste…“ Das Mädchen verstummte abrupt.
Annie sah über die Schulter. „Toll, Riley. Danke. Warte einen Augenblick, bis ich mich um…“ Auch sie unterbrach sich, als sie sah, um wen es sich handelte.
Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und stieß gegen eine Vitrine. Flaschen klirrten, aber Annie stand wie gelähmt da. „Logan?“
„Ich habe sie gewarnt“, sagte ihre Nichte. „Ich habe sie davor gewarnt, mir nachzukommen. Also hat er Sie geschickt. Ich bin nicht dumm. Ich kenne Sie.
Von den Hochzeitsfotos von Mom und Dad.“
Der Mann zog die Brauen zusammen. „Wie bitte?“
Rileys Miene blieb rebellisch.
Mit offenem Mund starrte Annie den Besucher an. „Logan?“ wiederholte sie.
„Logan Drake?“ Es war Jahre her, dass sie ihn zuletzt leibhaftig gesehen hatte.
Sie hatte angenommen, dass er den Kontakt mit Will abgebrochen hatte, nachdem Will Noelle geheiratet hatte. Und obwohl Sara ihn von Zeit zu Zeit erwähnte, war sein Anblick wie eine Blitzreise in die Vergangenheit. In ein anderes Leben.
In das einer anderen Annie.
Endlich schaute der Mann von Riley zu ihr. „Hallo, Annie.“ Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, und links und rechts der unglaublich blauen Augen mit den dichten Wimpern bildeten sich unzählige Fältchen.
Ein mulmiges Gefühl stieg in Annie auf. Sie war nicht sicher, wer sie nervöser machte. Riley oder Logan, der offensichtlich nicht überrascht war, sie hier zu treffen. „Es ist lange her“, erwiderte sie leise.
„Sie sind ein Freund meines Dads“, meinte Riley in vorwurfsvollem Ton.
„Wer ist dein Dad?“
Das Mädchen verschränkte die Arme und schob das Kinn vor.
Annie wollte sich das Haar aus dem Gesicht streichen, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie das Staubtuch noch in den Händen hielt. Sie legte es neben die Kasse. „Logan…“ Allein schon seinen Namen auszusprechen fühlte sich eigenartig an. „Dies ist»meine Nichte Riley.“
„Wills Tochter?“ Logan musterte den Teenager. „Im Ernst? Ist er auch auf der Insel?“
Riley verdrehte die Augen.
„Nein.“ Rasch machte Annie einen Schritt auf ihre Nichte zu, denn Riley war ein Fluchtversuch durchaus zuzutrauen. Natürlich gab es hier keinen Überlandbus, mit dem sie einfach verschwinden konnte. Um aufs Festland zu gelangen, würde sie auf die Fähre warten müssen. Trotzdem wollte Annie kein Risiko eingehen.
Sie wollte, dass Riley nach Hause zurückkehrte. „Er und Noelle leben noch in Washington State.“
Dann sah sie Riley an. „Das ist Logan Drake. Er mag ein alter Freund deines Dads sein, aber er ist auch Saras Bruder. Ich… bin sicher, er ist hier, um sie und Dr.
Hugo zu besuchen. Er stammt von Turnabout. Das ist doch richtig, Logan?“
Sein Lächeln verblasste kein bisschen. „Ich bin hier aufgewachsen“, bestätigte er.
„Wette, Sie konnten es kaum abwarten, von hier wegzukommen. Hier ist absolut nichts los. Man glaubt kaum, dass die Insel zu Kalifornien gehört. Ich meine, es gibt hur fünf Autos. Man stirbt vor Langeweile.“
„Riley!“ Entschuldigend lächelte Annie Logan zu. Es stimmte, Turnabout war keine große Insel. Weit vor der kalifornischen Küste gelegen, war sie kaum elf Meilen lang und weniger als eine halbe breit, mit einer einzigen Straße, die sie der Länge nach in zwei fast gleich große Hälften teilte. Annie besaß keinen Wagen. Die meisten Bewohner gingen entweder zu Fuß, fuhren Rad oder sausten in Elektromobilen umher.
„Sara
Weitere Kostenlose Bücher