Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Unterhaltungsprogramm der Fluglinie. Sie zappte so lange, bis sie einen Film fand, in dem Julia Roberts als junge Jurastudentin auftrat. Alle fünfzehn Sekunden wackelte das Bild, der Ton fiel aus, und Schneegestöber flimmerte über den Schirm. Jedes Mal verlor sie den Faden, und wenn Julia wieder auftauchte, war es eine neue Julia, die von Dingen sprach, die Annika nicht verstand. Nach zehn Minuten gab sie auf und schaltete zu einem Film mit einem in die Jahre gekommenen Adam Sandler um. Hier passierte das Gleiche. Sie machte den Bildschirm aus.
Dort draußen war der große und schwarze Weltraum. Es waren keine Sterne zu sehen, nur die blinkende Lampe an der äußersten Flügelspitze des Flugzeugs. In der Kabine war die Beleuchtung gedimmt, die meisten Leute schliefen, manche lasen, andere lösten im Schein der Leselampe unter den Gepäckfächern ein Sudoku-Rätsel.
Annika beugte sich hinunter und fischte aus ihrer Tasche den Artikel über Kenia, den sie sich von landguiden.se, der Länder-Informationsseite des Instituts für außenpolitische Studien, ausgedruckt hatte. Neunundzwanzig Seiten über Geographie und Klima, über Geschichte bis hin zu Außenpolitik und Tourismus.
Vielleicht hatte ja Jimmys Tanya den Artikel geschrieben. Vielleicht hatte sie den Inhalt analysiert und eine Expertise über den aktuellen politischen Stand abgegeben.
Sie war sicher unglaublich belesen und begabt.
»Die Wiege der Menschheit liegt in Ostafrika«, las Annika. »Am Turkanasee im nordwestlichen Kenia gibt es Spuren menschlicher Besiedlung, Spuren, die mehrere Millionen Jahre alt sind.«
Laut Berechnungen aus dem Jahr 2010 wird die aktuelle Einwohnerzahl Kenias auf 39 Millionen geschätzt, eine Zunahme von einem Drittel in zehn Jahren.
Gut die Hälfte der Menschen lebt in Armut, und die Zahlen sind steigend. Die meisten Arbeiten werden von Frauen verrichtet. Im Jahr 2005 waren 1,3 Millionen Kenianer HIV -infiziert, 140 000 starben noch im selben Jahr an Aids und noch bedeutend mehr an Malaria. Zeitweise ist ein Zehntel der Landesbevölkerung von Nahrungsmittelhilfen der UN abhängig. Nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2007 brachen an mehreren Stellen des Landes heftige Unruhen aus, unter anderem in Nairobis Slumvierteln, aber auch in Städten wie Eldoret und Kisumu im Westen. 1100 Menschen wurden dabei umgebracht, bis zu 600 000 vertrieben. Die Morde waren teilweise ethnisch motiviert. Am schlimmsten waren die Kikuyu betroffen, also der Stamm, der zuvor die politische Macht innehatte.
Sie ließ die Zettel sinken, das hörte sich an wie die Ouvertüre zum Völkermord in Ruanda, wo die Menschen mit Macheten erschlagen und verstümmelt worden waren. Aber es gab einen wesentlichen Unterschied: Dieses Mal entschied sich die Staatengemeinschaft einzugreifen. Kofi Annan vermittelte, und ein Blutbad konnte verhindert werden.
Sie schloss die Augen und suchte nach Thomas, wo war er in all dem? Seine Hände und sein Gesicht, seine blonden Haare und die breiten Schultern. Er war irgendwo weit dort unten, aber die Bilder entzogen sich ihr, sie gingen in dem ohrenbetäubenden Rauschen der Kabine unter, im Lärm des durch die Luftschichten brausenden Metallkörpers.
Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn sie zuckte zusammen, als der Kapitän über die Lautsprecheranlage durchsagte, dass sie sich im Landeanflug auf Nairobi befänden.
Der Bildschirm war zum Leben erwacht, die Karte mit dem übergroßen Flugzeug war wieder zu sehen. Draußen war es noch immer schwarz. Laut Karte überflogen sie gerade einen Ort namens Nouakchott.
Sie rieb sich die Augen und blickte aus dem Fenster. Kein Licht zu sehen. Aber sie wusste, dass dort unten Menschen waren, Menschen in der Stadt Nouakchott, die in mondloser Finsternis lebten.
»Du hast das Frühstück verpasst«, sagte Halenius. »Ich wollte dich nicht wecken, du hast so schön geschlafen.«
Sie wischte sich über die Augen.
»Ich nehme an, es gab Wachteleier und gekühlten Champagner«, sagte sie und kletterte über Halenius’ Knie.
»Sie haben gerade die Anschnallzeichen eingeschaltet …«
»Ich glaube nicht, dass sie begeistert wären, wenn ich auf den Sitz pinkle«, erwiderte sie und ging zur Bordtoilette.
Es roch nach Desinfektionsmittel und Urin. Sie blieb so lang auf der Toilette sitzen, bis die Flugbegleiterin an die Tür klopfte und sie bat, zu ihrem Platz zurückzukehren und sich anzuschnallen, sie würden jetzt landen.
Sie taumelte zurück zu ihrem
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