Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
ist irgendwo ein Missverständnis entstanden. Gut, dass wir die Sache direkt klären können.«
Die ältere Frau lächelte.
»Leider verhält es sich so, dass …«
Thomas’ aufgedunsenes Gesicht sprach vom Computerbildschirm zu ihr. Die gellende Stimme des Entführers drang vom Gepäckband an ihr Ohr. Halenius’ gutturales Stöhnen stieg in die Luft und blieb unter dem Dach hängen.
Sie lehnte sich über den Tresen, und als sie den Mund aufmachte, schoss es wie Feuer aus ihr heraus.
»Jetzt«, sagte sie. »Sofort.«
Die ältere Frau beugte sich über den Computer und gab ein paar Befehle ein, sie nahm zwei vorläufige Bordkarten aus dem Drucker und legte sie auf den Check-in-Tresen.
»Bitte sehr«, sagte sie. Damit war die Sache erledigt.
*
Anders Schyman spürte, wie es in seinem Kopf klickte, als er die Nachricht von der Presseagentur TT las: Verdammt, wir hatten doch recht.
Natürlich hatte die Anklageverhandlung gegen Gustaf Holmerud hinter verschlossenen Türen stattgefunden, der Grund für seine Inhaftierung wurde nicht bekanntgegeben, aber der Haftantrag der Staatsanwaltschaft sprach eine deutliche Sprache. Der Mann wurde aufgrund des dringenden Tatverdachts des Mordes in zwei Fällen in Untersuchungshaft genommen.
Damit können nur Lena Andersson und Nalina Barzani gemeint sein, dachte Schyman und beugte sich über die Gegensprechanlage.
»Patrik, können Sie mal kurz zu mir reinkommen?«
Der Nachrichtenchef kam durch die Redaktion gehüpft, in der Hand den obligatorischen Kugelschreiber.
»Dringender Tatverdacht!«, sagte er, nachdem er die Glastür aufgeschoben hatte und auf dem Besucherstuhl gelandet war. »Jetzt sind wir am Drücker!«
»Irgendetwas haben wir verpasst«, sagte Schyman.
Eine vage Zeugenaussage und die Angaben eines Mobilfunkanbieters rechtfertigten vielleicht einen Anfangsverdacht, aber nicht den dringenden Tatverdacht.
Patrik kaute auf seinem Stift.
»Q hat die Ermittlung geleitet, also kümmert sich Berit um die Sache.«
Alle wussten, dass Berit Hamrin und Kommissar Q von der Kriminalpolizei ein gutes und enges Verhältnis hatten, aber außer Schyman und vielleicht noch Annika Bengtzon wusste niemand, wie gut und eng es tatsächlich war oder, genauer gesagt, gewesen war. Die Sache zwischen Berit und dem Kommissar war mehrere Jahre gelaufen. Offenbar war es ihr geglückt, mit ihrem abgelegten Liebhaber einen konstruktiven Kontakt aufrechtzuerhalten, denn er gab ihr nach wie vor Hinweise, die er nur mit wenigen anderen teilte.
Schyman wusste nur von der Geschichte, weil er sie geradeheraus darauf angesprochen hatte. Er wollte wissen, warum sie solche phantastischen Quellen bei der Polizei hatte, worauf sie ohne Scheu und Zögern antwortete, sie schlafe jeden Dienstagnachmittag um fünf in einer der Bereitschaftsdienst-Wohnungen der Polizei mit Kommissar Q. Ehrlich gesagt, wusste er nicht genau, ob sie es noch immer tat.
»Die müssen irgendetwas Handfestes haben«, sagte Schyman. »Technische Beweise, Zeugen, die Mordwaffe oder ein Geständnis. Ich will wissen, was es ist.«
Patrik Nilsson schaute hinaus in die Redaktion.
»Fühlt sich saugut an, dass wir wirklich den richtigen Riecher hatten«, sagte er und schielte zu seinem Chefredakteur. Ein kleiner Schauer lief Schyman über den Rücken.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er.
Patrik knipste ein paar Mal mit seinem Stift.
»Eigentlich war es ja Annika Bengtzon«, sagte er. »Sie hat es auch nur gesagt, um mich zu ärgern, ich weiß. Ich fand eben die Baumwurzel in Axelsberg nicht so spannend, und dann hat sie mir die ganzen toten Frauen aufgezählt und gesagt, dass uns womöglich ein Serientäter durch die Lappen geht. Dann habe ich Berit und Michnik dran gesetzt …«
Schyman beugte sich über den Schreibtisch. Dass auch Patrik Nilsson gelegentlich von presseethischer Reue heimgesucht wurde, war ein unerwartetes, aber heilsames Zeichen.
»Es ist nicht unsere Aufgabe, recht zu haben«, sagte der Chefredakteur. »Die Gesellschaft verändert sich ununterbrochen, und wir verfolgen das, wir beschreiben es und berichten darüber, aber wir stehen nicht für die ultimative Wahrheit. Ein Sachverhalt kann sich von heute auf morgen ändern, und wenn das geschieht, tragen wir dem Rechnung.«
Patrik erhob sich erleichtert.
»Finden Sie die Gründe für die Inhaftierung heraus«, sagte Schyman.
Als der Nachrichtenchef die Tür hinter sich geschlossen hatte, holte Schyman den an den Vorstandsvorsitzenden
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