Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Herman Wennergren adressierten Umschlag aus der Schreibtischschublade, atmete zwei Mal tief durch und rief dann in der Hausmeisterei an.
»Ich bräuchte einen Boten zum Vorstand, haben Sie jemanden, der das übernehmen kann?«
Er blickte auf den Kalender und malte einen Kringel um den 30. November.
Laut Arbeitsvertrag hatte er eine Kündigungsfrist von sechs Monaten, gerechnet vom Eingang der Kündigung. Das bedeutete, dass er am 31. Mai nächsten Jahres, im schönsten Wonnemonat, seinen Hut nehmen konnte.
Er sah, dass der neue Kollege aus der Hausmeisterei angesaust kam, und wog den Umschlag in der Hand.
Ob sie seine Bitte um Entlassung akzeptierten? Oder würden sie ihn überreden zu bleiben, sein Gehalt und seine Betriebsrente erhöhen und ihn in Bitten und Flehen ertränken?
Er reichte dem Hausmeister den Umschlag.
»Es ist nicht sehr dringlich«, sagte er, »aber der Brief sollte heute noch rüber.«
»Ich kümmere mich sofort darum.«
*
Tatsächlich parkte die Maschine sehr weit draußen auf dem Flugfeld, vielleicht sogar mehr als zehn Kilometer vom Terminal entfernt. Erst mussten sie auf den Bus warten, der sie zum Terminal brachte, dann auf den nächsten, weil der erste voll war, und dann rumpelten und schaukelten sie über eine Viertelstunde lang in Richtung Flughafengebäude.
Als sie endlich das Terminal 2 B erreichten, hatte Annika längst einen Tunnelblick. Sie nahm keine Menschen mehr wahr, keine Wände oder Croissantcafés, lediglich die große Abflugtafel, auf der hinter dem Flug nach Nairobi final call blinkte.
Halenius rannte wie der Teufel, die Tasche auf seinem Rücken hüpfte, und sie folgte ihm auf den Fersen. Sie hetzten Korridore und Laufbänder entlang, vorbei an Terminals mit Zahlen- und Buchstabenkombinationen ohne erkennbare Logik, und erreichten 2 F, als für den Kenya-Airways-Nachtflug nach Nairobi bereits gate closed angezeigt wurde. An der Sicherheitskontrolle stand eine unglaublich lange Schlange, an der sie beinahe ohne Bodenkontakt vorbeiflogen, Annika sagte etwas mit ihrer Feuerstimme, und man bat sie darum, ihre Tasche kontrollieren zu dürfen, und nahm ihr die Zahncreme ab, sie erreichten das Gate und machten eine ältere Frau ausfindig, die ihnen die Glastüren aufschloss und sie ins Flugzeug ließ, obwohl sie viel zu spät dran waren.
»Es ist jedes Mal dasselbe«, sagte Halenius und sank auf seinen Sitz 36 L. »Jedes Mal dasselbe auf diesem Scheißflughafen.«
Annika antwortete nicht. Ihre Knie stießen an den Vordersitz, sie taten schon nach fünf Sekunden weh. Er saß dicht neben ihr, ihre Ellenbogen berührten sich auf der schmalen Armlehne, und sie meinte, seinen Geruch wahrzunehmen. Auf dem Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes stand
KARIBU !
Welcome on board!
Daneben waren drei Löwen, ein Hahn und zwei Hühner abgebildet sowie das Logo von Kenya Airways mit dem Slogan The Pride of Africa . Das Bild wechselte, und Text wurde eingeblendet: Umbali wa mwisho wa safari 4039 Maili .
Eine Weltkarte mit einem Flugzeug von der Größe Westeuropas tauchte auf dem Schirm auf, und die unmittelbar bevorstehende Reiseroute führte in einem gestrichelten Bogen zu einem Kästchen an der rechten Seite Afrikas. Der Flug würde acht Stunden und zehn Minuten dauern.
Sie blickte aus dem Fenster. Ein Mann mit Ohrenschützern und dicker Jacke zog und zerrte am Boden direkt unter ihnen an einem Schlauch. Sie fragte sich, ob er jemals in Afrika gewesen war.
Die Maschine war voll besetzt, die Luft in der Kabine schon jetzt stickig. Sie schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Die Motoren sprangen an, das Flugzeug wurde auf die Startbahn gelotst. Annika spürte, wie sich die Vibrationen des Metalls in ihrem Körper fortpflanzten.
Halenius’ Knie stieß an ihres.
Vor zwölf Stunden hatte sie in ihrem Bett in der Agnegatan gelegen, er neben ihr, in ihr, und das Gefühl gehabt, dass alles zu früh oder zu spät war.
Und noch immer konnte sie nicht sagen, was zutraf.
TAG 9
Donnerstag, 1. Dezember
In unregelmäßigen Abständen wachte sie auf, mit steifem Genick und Spucke in den Mundwinkeln. Jedes Mal sah sie zu Halenius hinüber, der manchmal mit halboffenem Mund schlief, manchmal in einen Film auf dem Bildschirm vor sich versunken war, die Kopfhörer der Fluggesellschaft tief in den Gehörgang gedrückt.
Um zwanzig nach vier (kenianischer Zeit) wollte sich ihr Körper nicht noch einmal entspannen, und Annika überließ sich dem
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