Ansichten eines Clowns
- ich hätte es nicht ertragen. Um mit Leo telefonieren zu können, hatte ich unter Priesterseminaren im Telefonbuch gesucht, nichts gefunden, und ich wußte doch, daß es diese beiden Dinger gab: Leoninum und Albertinum. Schließlich fand ich die Kraft, den Hörer aufzunehmen und die Nummer der Auskunft zu wählen, ich bekam sogar Anschluß, und das Mädchen, das sich meldete, sprach sogar mit
rheinischem Tonfall. Manchmal sehne ich mich danach, rheinisch zu hören, so sehr, daß ich von irgendeinem Hotel aus eine Bonner Telefondienststelle anrufe, um diese vollkommen unmartialische Sprache zu hören, der das R fehlt, genau der Laut, auf dem die militärische Disziplin hauptsächlich beruht.
Ich hörte das »Bitte warten« nur fünfmal, dann meldete sich schon ein Mädchen, und ich fragte sie nach diesen »Dingern, in denen katholische Priester ausgebildet werden«; ich sagte, ich hätte unter Priesterseminaren nachgesehen, nichts gefunden, sie lachte und sagte, diese »Dinger« - sie sprach dabei sehr hübsch die
Anführungszeichen - hießen Konvikte, und sie gab mir die Nummern von beiden. Die Mädchen-66
stimme am Telefon hatte mich ein bißchen getröstet. Sie hatte so natürlich geklungen, nicht prüde, nicht kokett, und sehr rheinisch. Es gelang mir sogar, die
Telegrammaufnahme zu bekommen und das Telegramm an Karl Emonds aufzugeben.
Es ist mir immer unverständlich gewesen, warum jedermann, der für intelligent
gehalten werden möchte, sich bemüht, diesen Pflichthaß auf Bonn auszudrücken.
Bonn hat immer gewisse Reize gehabt, schläfrige Reize, so wie es Frauen gibt, von denen ich mir vorstellen kann, daß ihre Schläfrigkeit Reize hat. Bonn verträgt natürlich keine Übertreibung, und man hat diese Stadt übertrieben. Eine Stadt, die keine Übertreibung verträgt, kann man nicht darstellen: immerhin eine seltene
Eigenschaft. Es weiß ja auch jedes Kind, daß das Bonner Klima ein Rentnerklima ist, es bestehen da Beziehungen zwischen Luft- und Blutdruck. Was Bonn überhaupt
nicht steht, ist diese defensive Gereiztheit: ich hatte zu Hause reichlich Gelegenheit, mit Ministerialbeamten, Abgeordneten, Generalen zu sprechen - meine Mutter ist eine Partytante -, und sie alle befinden sich im Zustand gereizter, manchmal fast weinerlicher Verteidigung. Sie lächeln alle so verquält ironisch über Bonn. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn eine Frau, deren Reiz ihre Schläfrigkeit ist, anfinge, plötzlich wie eine Wilde Can-Can zu tanzen, so könnte man nur annehmen, daß sie gedopt wäre - aber eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt ihnen nicht. Eine gute alte Tante kann einem beibringen, wie man Pullover strickt, Deckchen häkelt und Sherry serviert - ich würde doch nicht von ihr erwarten, daß sie mir einen zweistündigen geistreichen und verständnisvollen Vortrag über Homosexualität hält oder plötzlich in den Nutten-Jargon verfällt, den alle in Bonn so schmerzlich
vermissen. Falsche Erwartungen, falsche Scham, falsche Spekulation auf
Widernatürliches. Es würde mich nicht wundern, wenn sogar die Vertreter des
Heiligen Stuhls anfingen, sich über Nuttenmangel zu beklagen. Ich lernte bei einer der Parties zu Hause einmal einen Parteimenschen kennen, der in einem Ausschuß zur Bekämp-67
fung der Prostitution saß und sich bei mir flüsternd über den Nuttenmangel in Bonn beklagte. Bonn war vorher wirklich nicht so übel mit seinen vielen engen Gassen, Buchhandlungen, Burschenschaften, kleinen Bäckereien mit einem Hinterzimmer, wo man Kaffee trinken konnte.
Bevor ich Leo anzurufen versuchte, humpelte ich auf den Balkon, um einen Blick auf meine Heimatstadt zu werfen. Die Stadt ist wirklich hübsch: das Münster, die Dächer des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, das Beethovendenkmal, der kleine Markt und der Hofgarten. Bonns Schicksal ist es, daß man ihm sein Schicksal nicht glaubt. Ich atmete in vollen Zügen oben auf meinem Balkon die Bonner Luft, die mir überraschenderweise wohltat: als Luftveränderung kann Bonn für Stunden Wunder
wirken.
Ich ging vom Balkon weg, ins Zimmer zurück und wählte, ohne zu zögern, die
Nummer des Dings, in dem Leo studiert. Ich war bange. Seitdem er katholisch
geworden ist, habe ich Leo noch nicht gesehen. Er hat mir die Konversion auf seine kindlich korrekte Art mitgeteilt: »Lieber Bruder«, schrieb er, »teile ich Dir hierdurch mit, daß ich nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen bin, zur
katholischen Kirche überzutreten und
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