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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Unterstützung verweigere und von mir
    erwarte, daß ich mit »meiner Hände Arbeit« mich »und das unglückliche,
    anständige Mädchen, das du verführt hast« ernährte. Er habe den alten Derkum, wie ich wisse, immer geschätzt, als Gegner und als Mensch, und es sei ein Skandal.
    Wir wohnten in einer Pension in Köln-Ehrenfeld. Die siebenhundert Mark, die
    Maries Mutter ihr hinterlassen hatte, waren nach einem Monat weg, und ich hatte das Gefühl, sehr sparsam und vernünftig damit umgegangen zu sein.
    Wir wohnten in der Nähe des Ehrenfelder Bahnhofs, blickten vom Fenster unseres Zimmers aus auf die rote Backsteinmauer des Bahndamms, Braunkohlenzüge fuhren
    voll in die Stadt herein, leer aus ihr hinaus, ein trostreicher Anblick, ein
    herzbewegendes Geräusch, ich mußte immer an die ausgeglichene Vermögenslage
    zu Hause denken. Vom Badezimmer aus der Blick auf Zinkwannen und
    Wäscheleinen, im Dunkeln manchmal das Geräusch einer fallenden Büchse oder
    einer Tüte voll Abfall, die einer heimlich aus dem Fenster in den Hof warf. Ich lag oft in der Wanne und sang Liturgisches, bis die Wirtin mir erst das Singen - »Die Leute denken ja, ich beherberge einen abgesprungenen Pastor« - verbot, dann den
    Badekredit sperrte. Ich badete ihr zu oft, sie fand das überflüssig. Sie stocherte manchmal mit dem Schüreisen in den heruntergeworfenen Abfallpaketen auf dem
    Hof, um aus dem Inhalt den Absender zu ermitteln: Zwiebelschalen, Kaffeesatz,
    Kotelettknochen gaben ihr Stoff für umständliche Kombinationen, die sie durch
    beiläufig vorgenommene Erkundigungen in Metzgerläden und Gemüsegeschäften
    ergänzte, nie mit Erfolg. Der Abfall ließ nie bindende Schlüsse auf die Individualität zu. Drohungen, die sie in den wäscheverhangenen Himmel hinauf schickte, waren so formuliert, daß jeder sich gemeint vorkam: »Mir macht keiner was vor, ich weiß, wo ich dran bin.« Wir lagen morgens immer im Fenster und lauerten auf den Briefträger, der uns
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    manchmal Päckchen brachte, von Maries Freundinnen, Leo, Anna, in sehr
    unregelmäßigen Abständen Großvaters Schecks, aber von meinen Eltern nur
    Aufforderungen, »mein Schicksal in die Hand zu nehmen, aus eigner Kraft das
    Mißgeschick zu meistern.«
    Später schrieb meine Mutter sogar, sie habe mich »verstoßen«. Sie kann bis zur Idiotie geschmacklos sein, denn sie zitierte den Ausdruck aus einem Roman von
    Schnitzler, der Herz im Zwiespalt heißt. In diesem Roman wird ein Mädchen von seinen Eltern »verstoßen«, weil es sich weigert, ein Kind zur Welt zu bringen, das ein »edler, aber schwacher Künstler«, ich glaube ein Schauspieler, ihr gezeugt hat. Mutter zitierte wörtlich einen Satz aus dem achten Kapitel des Romans: »Mein Gewissen zwingt
    mich, dich zu verstoßen.« Sie fand, daß dies ein passendes Zitat war. Jedenfalls
    »verstieß« sie mich. Ich bin sicher, sie tat es nur, weil es ein Weg war, der sowohl ihrem Gewissen wie ihrem Konto Konflikte ersparte. Zu Hause erwarteten sie, daß ich einen heroischen Lebenslauf beginnen würde: in eine Fabrik gehen oder auf den Bau, um meine Geliebte zu ernähren, und sie waren alle enttäuscht, als ich das nicht tat. Sogar Leo und Anna drückten ihre Enttäuschung deutlich aus. Sie sahen mich schon mit Stullen und Henkelmann im Morgengrauen losziehen, eine Kußhand zu Maries
    Zimmer hinaufwerfen, sahen mich abends »müde, aber befriedigt« heimkehren,
    Zeitung lesen und Marie beim Stricken zuschauen. Aber ich machte nicht die geringste Anstrengung, aus dieser Vorstellung ein lebendes Bild zu machen. Ich blieb bei Marie, und Marie war es viel lieber, wenn ich bei ihr blieb. Ich fühlte mich als »Künstler« (viel mehr als jemals später), und wir verwirklichten unsere kindlichen Vorstellungen von Boheme: mit Chiantiflaschen und Sackleinen an den Wänden und buntem Bast. Ich
    werde heute noch rot vor Rührung, wenn ich an dieses Jahr denke. Wenn Marie am Wochenende zu unserer Wirtin ging, um Aufschub für die Mietzahlung zu erlangen, fing die Wirtin jedesmal Streit an und fragte, warum ich denn nicht arbeiten ginge.
    Und
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    Marie sagte mit ihrem wunderbaren Pathos: »Mein Mann ist ein Künstler, ja, ein Künstler.« Ich hörte sie einmal von der dreckigen Treppe aus ins offene Zimmer der Wirtin hinunterrufen : »Ja, ein Künstler«, und die Wirtin rief mit ihrer heiseren Stimme zurück: »Was, ein Künstler? Und Ihr Mann ist er auch? Da wird sich das
    Standesamt aber gefreut haben.« Am meisten ärgerte sie

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