Ansichten eines Clowns
war. Leo hatte uns sein ganzes Taschengeld gegeben, Anna uns manchmal ein
selbstgebackenes Weißbrot geschickt, und später hatte uns sogar Großvater hin und wieder Geld geschickt, Verrechnungsschecks über fünfzehn, zwanzig Mark, und
einmal aus einem Grund, den ich nie herausbekam, einen Scheck über
zweiundzwanzig Mark. Wir hatten jedesmal ein fürchterliches Theater mit diesen Schecks: unsere Wirtin hatte kein Bankkonto, Heinrich auch nicht, er hatte so wenig Ahnung von Verrechnungsschecks wie wir. Er zahlte den ersten Scheck einfach auf das Caritaskonto seiner Pfarre ein, ließ sich an der Sparkasse Zweck und Art des Verrechnungsschecks erklären, ging dann zu seinem Pfarrer und bat um einen
Barscheck über fünfzehn Mark -aber der Pfarrer platzte fast vor Wut. Er erklärte Heinrich, er könne ihm keinen Barscheck geben, weil er die Zweckbestimmung
erklären müsse, und so ein Caritaskonto sei eine heikle Sache, es würde kontrolliert, und wenn er schriebe: »Gefälligkeitsscheck für Kaplan Behlen, Gegenwert für privaten Verrechnungsscheck«, bekäme er Krach, denn eine Pfarrcaritas sei schließlich kein Umschlagplatz für Verrechnungsschecks »dunkler Herkunft«. Er könne den
Verrechnungsscheck nur als Spende für einen bestimmten Zweck deklarieren, als
unmittelbare Unterstützung von Schnier für Schnier, und mir den Gegenwert bar als Spende der Caritas auszahlen. Das ginge, sei aber nicht ganz korrekt. Es dauerte 162
im ganzen zehn Tage, bis wir die fünfzehn Mark wirklich hatten, denn Heinrich hatte natürlich noch tausend andere Dinge zu tun, er konnte sich nicht ausschließlich der Einlösung meiner Verrechnungsschecks widmen. Ich bekam jedesmal einen
Schrecken, wenn ich danach von Großvater einen Verrechnungsscheck bekam. Es
war teuflisch, es war Geld und doch kein Geld, und es war nie das, was wir wirklich brauchten: unmittelbar Geld. Schließlich richtete sich Heinrich selbst ein Bankkonto ein, um uns Barschecks für die Verrechnungsschecks geben zu können, aber er war oft für drei, vier Tage weg, einmal war er für drei Wochen in Urlaub, als der Scheck über zweiundzwanzig Mark kam, und ich trieb schließlich in Köln meinen einzigen Jugendfreund auf, Edgar Wieneken, der irgendein Amt—ich glaube Kulturreferent bei der SPD - bekleidete. Ich fand seine Adresse im Telefonbuch, hatte aber keine zwei Groschen, um ihn anzurufen, und ging zu Fuß von Köln-Ehrenfeld nach Köln-Kalk, traf ihn nicht an, wartete bis acht Uhr abends vor der Haustür, weil seine Wirtin sich weigerte, mich in sein Zimmer zu lassen. Er wohnte in der Nähe einer sehr großen und sehr dunklen Kirche, in der Engelsstraße (ich weiß bis heute nicht, ob er sich verpflichtet fühlte, in der Engelsstraße zu wohnen, weil er in der SPD war). Ich war vollkommen erledigt, todmüde, hungrig, hatte nicht einmal Zigaretten und wußte, daß Marie zu Hause saß und sich ängstigte. Und Köln-Kalk, die Engelsstraße, die chemische Fabrik in der Nähe — das ist kein heilsamer Anblick für Melancholiker.
Ich ging schließlich in eine Bäckerei und bat die Frau hinter der Theke, mir ein Brötchen zu schenken. Sie war jung, sah aber mies aus. Ich wartete, bis der Laden einen Augenblick leer war, ging rasch hinein und sagte, ohne guten Abend zu
wünschen: »Schenken Sie mir ein Brötchen.« Ich hatte Angst, es würde jemand
reinkommen — sie sah mich an, ihr dünner grämlicher Mund wurde erst noch dünner, rundete sich dann, füllte sich, dann steckte sie ohne ein Wort drei Brötchen und ein Stück Hefekuchen in eine Tüte und gab es mir. Ich glaube, ich
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sagte nicht einmal Danke, als ich die Tüte nahm und rasch wegging. Ich setzte mich auf die Türschwelle des Hauses, in dem Edgar wohnte, aß die Brötchen und den
Kuchen und fühlte ab und zu nach dem Verrechnungsscheck über zweiundzwanzig
Mark in meiner Tasche. Zweiundzwanzig war eine merkwürdige Zahl, ich grübelte
darüber nach, wie sie zustande gekommen sein konnte, vielleicht war es irgendein Rest auf einem Konto gewesen, vielleicht sollte es auch ein Witz sein, wahrscheinlich war es einfach Zufall, aber das Merkwürdige war, daß sowohl die Ziffer 22 wie in Worten Zweiundzwanzig drauf stand, und Großvater mußte sich doch irgend etwas
dabei gedacht haben. Ich bekam es nie heraus. Später entdeckte ich, daß ich nur eineinhalb Stunden in Kalk in der Engelsstraße auf Edgar gewartet hatte: es kam mir vor wie eine Ewigkeit voller Trübsal: die dunklen
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