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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Abschrek-kungstheorien hatte, die bewiesen, daß sie reines, reines Gift seien. Aber dann gab sie uns nicht etwa bessere Bonbons, die nicht giftig waren, sondern gar keine. Im Internat wunderten sich alle«, sagte ich leise, »daß ich als einziger nie übers Essen murrte, alles aufaß und das Essen herrlich fand.«
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    »Na, siehst du«, sagte er matt, »es hat wenigstens sein Gutes gehabt.« Es klang nicht sehr überzeugt und gar nicht glücklich, was er da sagte.
    »Oh«, sagte ich, »über den theoretischen pädagogischen Wert einer solchen
    Erziehung bin ich mir vollkommen klar -aber es war eben alles Theorie, Pädagogik, Psychologie, Chemie - und eine tödliche Verdrossenheit. Bei Wienekens wußte ich, wann es Geld gab, freitags, auch bei Schniewinds und Holleraths merkte man, wenn es am Monatsersten oder am Fünfzehnten Geld gab - es gab was extra, für jeden eine besonders dicke Scheibe Wurst, oder Kuchen, und Frau Wieneken ging freitags
    morgens immer zum Friseur, weil am frühen Abend - nun, du würdest sagen, der
    Venus geopfert wurde.«
    »Was«, rief mein Vater, »du meinst doch nicht.. .« Er wurde rot und sah mich
    kopfschüttelnd an.
    »Doch«, sagte ich, »das meine ich. Freitags nachmittags wurden die Kinder ins
    Kino geschickt. Vorher durften sie noch Eis essen gehen, so daß sie für mindestens dreieinhalb Stunden aus dem Haus waren, wenn die Mutter vom Friseur kam und der Vater mit der Lohntüte nach Haus. Du weißt, so groß sind Arbeiterwohnungen
    nicht.« - »Du meinst«, sagte mein Vater, »du meinst, ihr hättet gewußt, warum die Kinder ins Kino geschickt wurden?«
    »Natürlich nicht genau«, sagte ich, »und das meiste fiel mir erst später ein, wenn ich daran dachte - und erst viel später fiel mir ein, warum Frau Wieneken immer auf eine so rührende Art rot wurde, wenn wir dann aus dem Kino kamen und
    Kartoffelsalat aßen. Später, als er Platzwart wurde, war das anders - da war er wohl mehr zu Hause. Ich merkte als Junge nur immer, daß ihr irgendwie peinlich zu Mute war -und später erst fiel mir ein, warum. Aber in einer Wohnung, die aus einem großen Zimmer und einer Küche bestand, und mit drei Kindern - hatten sie wohl gar keine andere Wahl.«
    Mein Vater war so erschüttert, daß ich Angst hatte, er würde es für geschmacklos halten, jetzt wieder von Geld an-169
    zufangen. Er empfand unsere Begegnung als tragisch, fing aber schon an, diese
    Tragik auf einer Ebene edlen Leidens auch ein bißchen zu genießen, Geschmack
    daran zu finden, und dann würde es schwer sein, ihn wieder auf die monatlichen dreihundert Mark zu bringen, die er mir angeboten hatte. Mit Geld war es ähnlich wie mit dem »fleischlichen Verlangen«. Keiner sprach richtig darüber, dachte richtig daran, es wurde entweder - wie Marie vom fleischlichen Verlangen der Priester gesagt hatte - »sublimiert« oder als ordinär empfunden, nie als das, was es im Augenblick war: Essen oder ein Taxi, eine Schachtel Zigaretten oder ein Zimmer mit Bad.
    Mein Vater litt, es war offensichtlich und erschütternd. Er wandte sich zum Fenster hin, zog sein Taschentuch und trocknete sich ein paar Tränen. Ich hatte das noch nie gesehen: daß er weinte und sein Taschentuch richtig benutzte. Er bekam jeden
    Morgen zwei frische Taschentücher herausgelegt und warf sie abends ein bißchen verknautscht, aber nicht merklich angeschmutzt in den Wäschepuff in seinem
    Badezimmer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen meine Mutter aus Sparsamkeit, weil Waschmittel knapp waren, lange Diskussionen mit ihm darüber führte, ob er nicht die Taschentücher wenigstens zwei oder drei Tage mit sich herumtragen könne. »Du trägst sie ja doch nur mit dir herum, und richtig schmutzig sind sie nie - und es gibt doch Verpflichtungen der Volksgemeinschaft gegenüber.« Sie spielte damit auf
    »Kampf dem Verderb« und »Groschengrab« an. Aber Vater war — das einzige Mal,
    soweit ich mich erinnern konnte - energisch geworden und hatte darauf bestanden, morgens seine beiden frischen Taschentücher zu bekommen. Ich hatte noch nie ein Tröpfchen oder Stäubchen, irgend etwas, was Naseputzen notwendig gemacht hätte, an ihm gesehen. Jetzt stand er am Fenster und trocknete nicht nur Tränen, wischte sogar so etwas Ordinäres wie Schweiß von der Oberlippe. Ich ging raus in die Küche, weil er immer noch weinte, ich hörte ihn sogar ein bißchen schluchzen. Es gibt nur we-170
    nige Menschen, die man gern dabei hat, wenn man weint, und ich dachte mir, der

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