Ansichten eines Clowns
zu haben, zu meinem natürlichen Ausdruck machte. Er wurde nervös, hatte leichte Schweißspuren auf der Oberlippe. Meine erste Regung war immer noch nicht Wut oder Verbitterung oder gar Haß; meine leeren Augen füllten sich langsam mit Mitleid.
»Lieber Papa«, sagte ich leise, »zweihundert Mark sind gar nicht so wenig, wie du zu glauben scheinst. Das ist eine ganz hübsche Summe, ich will nicht mit dir darüber streiten, aber weißt du wenigstens, daß Askese ein teures Vergnügen ist, jedenfalls die Askese, an die Genneholm denkt; er meint nämlich Diät und nicht Askese, viel mageres Fleisch und Salate - die billigste Form der Askese ist der Hunger, aber ein hungriger Clown — nun, ist immer noch besser als ein betrunkener.« Ich trat zurück, es war mir peinlich, so nahe bei ihm
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zu stehen, daß ich beobachten konnte, wie die Schweißperlen auf seinen Lippen dicker wurden.
»Hör mal«, sagte ich, »reden wir, wie es sich für Gentlemen ziemt, nicht mehr über Geld, sondern über etwas anderes.«
»Aber ich will dir wirklich helfen«, sagte er verzweifelt, »ich will dir gern
dreihundert geben.«
»Ich will jetzt von Geld nichts hören«, sagte ich, »ich wollte dir nur erklären, was die erstaunlichste Erfahrung unserer Kindheit für mich war.«
»Was denn?« fragte er und sah mich an, als erwarte er ein Todesurteil. Er dachte wohl, ich würde von seiner Geliebten anfangen, der er in Godesberg eine Villa gebaut hat.
»Ruhig, ruhig«, sagte ich, »du wirst dich wundern; die erstaunlichste Erfahrung unserer Kindheit war die Erkenntnis, daß wir zu Hause nie richtig zu fressen
bekamen.«
Er zuckte zusammen, als ich fressen sagte, schluckte, lachte dann knurrend und fragte: »Du meinst, ihr wärt nie richtig satt geworden?« — »Genau das«, sagte ich ruhig, »wir sind nie richtig satt geworden, wenigstens zu Hause nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob es aus Geiz oder aus Prinzip geschah, mir wäre lieber, ich wüßte, daß es aus Geiz geschah - aber weißt du eigentlich, was ein Kind spürt, wenn es den ganzen Nachmittag radgefahren, Fußball gespielt, im Rhein geschwommen hat?«
»Ich nehme an, Appetit«, sagte er kühl.
»Nein«, sagte ich, »Hunger. Verdammt, wir wußten als Kinder immer nur, daß wir reich waren, sehr reich - aber von diesem Geld haben wir nichts gehabt - nicht einmal richtig zu essen.«
»Hat es euch je an etwas gefehlt?«
»Ja, sagte ich, »ich sags ja: an Essen - und außerdem am Taschengeld. Weißt du, worauf ich als Kind immer Hunger hatte?«
»Mein Gott«, sagte er ängstlich, »auf was?«
»Auf Kartoffeln«, sagte ich. »Aber Mutter hatte damals schon den
Schlankheitsfimmel - du weißt ja, sie war immer
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ihrer Zeit voraus -, und es wimmelte bei uns ständig von irgendwelchen dummen
Schwätzern, von denen jeder eine andere Ernährungstheorie hatte, leider spielte in keiner einzigen dieser Ernährungstheorien die Kartoffel eine positive Rolle. Die Mädchen in der Küche kochten sich manchmal welche, wenn ihr aus wart:
Pellkartoffeln mit Butter, Salz und Zwiebeln, und manchmal weckten sie uns, und wir durften im Schlafanzug runter kommen und uns unter der Bedingung absoluter
Verschwiegenheit mit Kartoffeln vollschlagen. Meistens gingen wir freitags zu
Wienekens, da gab es immer Kartoffelsalat, und Frau Wieneken häufte uns den
Teller besonders hoch voll. Und dann gab es bei uns immer zu wenig Brot im
Brotkorb, eine knappe beschissene Angelegenheit war das, unser Brotkorb, dieses verdammte Knäckebrot, oder ein paar Scheiben, die »aus gesundheitlichen Gründen«
halb trocken waren - wenn ich zu Wienekens kam und Edgar hatte gerade Brot geholt, dann hielt seine Mutter mit der linken Hand den Laib vor der Brust fest und schnitt mit der rechten frische Scheiben ab, die wir auffingen und mit Apfelkraut
beschmierten.«
Mein Vater nickte matt, ich hielt ihm die Zigaretten hin, er nahm eine, ich gab ihm Feuer. Ich hatte Mitleid mit ihm. Es muß schlimm für einen Vater sein, sich mit seinem Sohn, wenn er schon fast achtundzwanzig ist, zum erstenmal richtig zu
unterhalten. »Noch tausend andere Dinge«, sagte ich, »zum Beispiel Lakritzen,
Luftballons. Mutter hielt Luftballons für reine Verschwendung. Stimmt. Sie sind reine Verschwendung - aber um eure ganzen Scheißmillionen als Luftballons in den Himmel zu schicken, hätte unsere Verschwendungssucht gar nicht ausgereicht. Und diese billigen Bonbons, über die Mutter ganz besonders gescheite
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