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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Evangelium zu predigen:
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    Veronika, Magdalena, Maria und Martha - lauter Frauenhände im Evangelium, die
    Christus Zärtlichkeiten erwiesen. Stattdessen predigen sie über Gesetze,
    Ordnungsprinzipien, Kunst, Staat. Christus hat sozusagen privat fast nur mit Frauen Umgang gehabt. Natürlich brauchte er Männer, weil die wie Kalick ein Verhältnis zur Macht haben, Sinn für Organisationen und den ganzen Unsinn. Er brauchte Männer, so wie man bei einem Umzug einfach Möbelpacker braucht, für die grobe Arbeit, und Petrus und Johannes waren ja so liebenswürdig, daß sie fast schon keine Männer mehr waren, während Paulus so männlich war, wie es sich für einen Römer geziemte.
    Wir bekamen zu Hause bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus der Bibel vorgelesen, weil es in unserer Verwandtschaft von Pastoren wimmelt, aber keiner hat je über die Frauen im Evangelium oder so etwas Unfaßbares wie den ungerechten Mammon
    gesprochen. Auch bei den Katholiken im »Kreis« wollte nie einer über den
    ungerechten Mammon sprechen, Kinkel und Sommerwild lächelten immer nur
    verlegen, wenn ich sie darauf ansprach - als hätten sie Christus bei einem peinlichen Lapsus ertappt, und Fredebeul sprach von dem Verschleiß durch die Geschichte, den dieser Ausdruck erfahren habe. Ihn störte das »Irrationale« daran, wie er sagte. Als ob Geld etwas Rationales wäre. In Maries Händen verlor sogar das Geld seine
    Fragwürdigkeit, sie hatte eine wunderbare Art, achtlos und zugleich sehr achtsam damit umzugehen. Da ich Schecks und andere »Zahlungsmittel« grundsätzlich ablehne, bekam ich mein Honorar immer bar auf den Tisch des Hauses, und so brauchten wir nie länger als zwei, höchstens drei Tage im voraus zu planen. Sie gab fast jedem Geld, der sie darum anging, manchmal auch solchen, die sie gar nicht angegangen hatten, sondern von denen sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, daß sie Geld brauchten. Einem Kellner in Göttingen bezahlte sie einmal einen Wintermantel für seinen gerade schulpflichtigen Jungen, und dauernd zahlte sie für hilflose, in Zügen ins Erster-Klasse-Abteil verirrte Großmütter, die zu Beerdigun-203
    gen fuhren, Zuschläge und Übergänge. Es gibt unzählige Großmütter, die mit
    Zügen zu Beerdigungen von Kindern, Enkeln, Schwiegertöchtern und
    Schwiegersöhnen fahren und - manchmal natürlich mit einer gewissen Großmutter-
    hilflosigkeit kokettierend - sich umständlich mit schweren Koffern und Paketen voller Dauerwurst, Speck und Kuchen in Abteile erster Klasse fallen lassen. Marie zwang mich dann, die schweren Koffer und Pakete im Gepäcknetz unterzubringen,
    obwohl jedermann im Abteil wußte, daß die Oma nur eine Fahrkarte zweiter Klasse in der Tasche hatte. Sie ging dann auf den Flur und »regelte« die Sache mit dem Schaffner, bevor die Oma auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht wurde. Marie fragte vorher immer, wie weit sie denn fahre, und wer denn gestorben sei - damit sie den Aufschlag auch richtig lösen konnte. Die Kommentare der Großmütter bestanden
    meistens in den liebenswürdigen Worten: »Die Jugend ist gar nicht so schlecht, wie sie immer gemacht wird«, das Honorar in gewaltigen Schinkenbroten. Besonders
    zwischen Dortmund und Hannover - so kam es mir immer vor - sind täglich viele
    Großmütter zu Beerdigungen unterwegs. Marie schämte sich immer, daß wir Erster fuhren, und es wäre ihr unerträglich gewesen, wenn jemand aus unserem Abteil
    hinausgeworfen worden wäre, weil er nur Zweiter gelöst hatte. Sie hatte eine
    unerschöpfliche Geduld beim Anhören sehr umständlicher Schilderungen von
    Verwandtschaftsverhältnissen und beim Anschauen von Fotos wildfremder
    Menschen. Einmal saßen wir zwei Stunden lang neben einer alten Bückeburger
    Bäuerin, die dreiundzwanzig Enkelkinder hatte und von jedem ein Foto bei sich trug, und wir hörten uns dreiundzwanzig Lebensläufe an, sahen dreiundzwanzig Fotos von jungen Männern und jungen Frauen, die es alle zu etwas gebracht hatten:
    Stadtinspektor in Münster, oder verheiratet mit einem Bahnbetriebsassistenten, Leiter eines Sägewerks, und ein anderer war »hauptamtlich in dieser Partei, die wir immer wählen — Sie wissen schon«, und von einem weiteren, der bei der Bundeswehr war, behauptete
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    sie, der »wäre schon immer für das ganz Sichere« gewesen. Marie war immer ganz in diesen Geschichten drin, fand sie ungeheuer spannend und sprach vom »wahren
    Leben«, mich ermüdete das Element der Wiederholung in dieser

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