Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
Barmherzigkeit Gottes, die ja »wohl grö-
    ßer ist als das mehr juristische Denken der Theologen«. Die ganze Zeit über betete die Nonne den Rosenkranz. Marie - sie kann in religiösen Dingen sehr hartnäckig sein - fragte immer wieder, wo denn die Diagonale zwischen Gesetz und
    197
    Barmherzigkeit verlaufe. Ich erinnerte mich des Ausdrucks Diagonale. Schließlich ging ich raus, ich kam mir wie ein Ausgestoßener, vollkommen überflüssig vor. Ich stellte mich an ein Flurfenster, rauchte, blickte über die Mauer auf der anderen Seite in einen Autofriedhof. An der Mauer klebten lauter Wahlplakate. Schenk Dein
    Vertrauen der SPD. Wählt CDU. Offenbar lag ihnen daran, die Kranken, die aus
    ihren Zimmern vielleicht auf die Mauer blicken konnten, mit ihrer unbeschreiblichen Stupidität zu deprimieren. Schenk Dein Vertrauen der SPD war ja geradezu genial, fast literarisch gegen den Stumpfsinn, der darin lag, einfach WÄHLT CDU auf ein Plakat zu drucken. Es war fast zwei Uhr nachts geworden, und ich stritt mich später mit Marie darüber, ob das, was ich dann sah, wirklich passiert war oder nicht. Es kam ein streunender Hund von links, er schnüffelte an einer Laterne, dann an dem SPD-Plakat, an dem CDU-Plakat und pinkelte gegen das CDU-Plakat und lief weiter,
    langsam in die Straße hinein, die rechts vollkommen dunkel wurde. Marie stritt mir, wenn wir später über diese trostlose Nacht sprachen, immer den Hund ab, und wenn sie mir den Hund als »wahr« zubilligte, stritt sie ab, daß er gegen das CDU-Plakat gepinkelt hätte. Sie sagte, ich hätte so sehr unter dem Einfluß ihres Vaters gestanden, daß ich, ohne mir einer Lüge oder Verfälschung der Wahrheit bewußt zu sein,
    behaupten würde, der Hund habe seine »Schweinerei« an das CDU-Plakat gemacht,
    auch wenn es das SPD-Plakat gewesen wäre. Dabei hatte ihr Vater die SPD viel mehr verachtet als die CDU - und was ich gesehen hatte, hatte ich gesehen.
    Es war fast fünf, als ich Heinrich nach Hause brachte und er mir, während wir
    durch Ehrenfeld gingen, immer wieder zumurmelte, auf die Haustüren weisend:
    »Alles meine Schäfchen, alles meine Schäfchen.« Seine keifende Haushälterin mit den gelblichen Beinen, ihr böse ausgestoßenes »Was soll das ?«Ich ging nach Hause, wusch heimlich in kaltem Wasser im Badezimmer das Bettuch aus.
    Ehrenfeld, Braunkohlenzüge, Wäscheleinen, Badeverbot
    198
    und nachts manchmal die an unserem Fenster vorbeirauschenden Abfallpakete, wie Blindgänger, deren Drohung im Aufklatschen verpuffte, höchstens durch eine
    wegrollende Eierschale verlängert wurde.
    Heinrich bekam wieder Krach mit seinem Pfarrer unseretwegen, weil er aus der
    Caritaskasse Geld haben wollte, ich ging dann noch einmal zu Edgar Wieneken, und Leo schickte uns seine Taschenuhr zum Versetzen, Edgar trieb aus einer
    Arbeiterwohlfahrtskasse etwas für uns auf, und wir konnten wenigstens die
    Medikamente, das Taxi und die Hälfte der Arztkosten bezahlen.
    Ich dachte an Marie, die rosenkranzbetende Nonne, das Wort Diagonale, den Hund, die Wahlplakate, den Autofriedhof - und an meine kalten Hände, nachdem ich das Bettuch ausgewaschen hatte -, und ich hätte das alles doch nicht beschwören können.
    Ich hätte auch nicht schwören mögen, daß der Mann da in Leos Konvikt mir erzählt hatte, er telefoniere, um die Kirche finanziell zu schädigen, mit dem Wetterdienst in Berlin, und ich hatte es doch gehört, wie sein Schmatzen und Schlucken, als er den Karamelpudding aß.
    199

19
    Ohne lange zu überlegen und ohne zu wissen, was ich ihr sagen wollte, wählte ich die Nummer von Monika Silvs. Es hatte noch nicht zum erstenmal ausgeklingelt, da hob sie schon ab und sagte: »Hallo«.
    Schon ihre Stimme tat mir wohl. Sie ist klug und kräftig. Ich sagte: »Hier
    Hans, ich wollte. . .« Aber sie unterbrach mich und sagte: »Ach, Sie . . .« Es klang nicht kränkend oder unangenehm, nur war deutlich herauszuhören, daß sie nicht auf meinen, sondern auf jemand anderes Anruf gewartet hatte. Vielleicht wartete sie auf den Anruf einer Freundin, ihrer Mutter - und doch war ich gekränkt.
    »Ich wollte mich nur bedanken«, sagte ich, »Sie waren so lieb.« Ich konnte ihr Parfüm gut riechen, Taiga, oder wie es heißt, viel zu herb für sie.
    »Es tut mir ja alles so leid«, sagte sie, »es muß schlimm für Sie sein.« Ich wußte nicht, was sie meinte: die Kostertsche Kritik, die offenbar ganz Bonn gelesen hatte, oder Maries Hochzeit, oder beides.
    »Kann ich etwas für

Weitere Kostenlose Bücher