Ansichten eines Clowns
vorstellte, konnte ich verstehen, daß er sich Mädchen »näherte«. Mir war der Gedanke daran widerwärtig, aber ich konnte es verstehen, so wie ich manche widerwärtigen Sachen, die im Internat passierten, verstand.
Es fiel mir jetzt erst ein, daß ich es gewesen war, der ihr Papst Johannes und Züpfner als Trost bei Glaubenszweifeln angeboten hatte. Ich hatte mich vollkommen fair dem Katholizismus gegenüber verhalten, genau das war falsch gewesen, aber für mich war Marie auf eine so natürliche Weise katholisch, daß ich ihr diese Natur zu erhalten sann. Ich weckte sie, wenn sie sich verschlief, damit sie rechtzeitig zur Kirche kam. Oft genug habe ich ihr ein Taxi spendiert, damit sie pünktlich kam, ich habe für sie herumtelefoniert, wenn wir in evangelischen Gegenden waren, um eine Heilige Messe für sie aufzutreiben, und sie hat immer gesagt, das fände sie »besonders« lieb, aber dann sollte ich diesen verfluchten Zettel unterschreiben, schriftlich geben, daß ich die Kinder katholisch erziehen lassen würde. Wir hatten oft über unsere Kinder gesprochen. Ich hatte mich sehr auf Kinder gefreut, mich schon mit meinen Kindern unterhalten, ich hatte sie schon auf dem Arm gehalten, ihnen rohe Eier in die Milch geschlagen, mich beunruhigte nur die Tatsache, daß wir in Hotels wohnen würden, und in Hotels werden meistens nur die Kinder von Millionären oder Königen gut
behandelt. Den Kindern von Nichtkönigen oder Nichtmillionären, jedenfalls den
Jungen, wird zuerst einmal zugebrüllt: »Du bist hier nicht zu Hause«, eine dreifache Unterstellung, weil vorausgesetzt wird, daß man sich zu Hause wie ein Schwein
benimmt, daß man sich nur wohlfühlt, wenn man sich wie ein Schwein benimmt, und daß man sich als Kind um keinen Preis wohlfühlen soll. Mädchen haben immer die Chance, als »süß« betrachtet und gut behandelt zu werden, aber Jungen werden
zunächst angeschnauzt, wenn die Eltern nicht dabei sind. Für die Deutschen
224
ist ja jeder Junge ein ungezogenes Kind, das nie ausgesprochene Adjektiv ungezogen ist einfach mit dem Substantiv verschmolzen. Würde einer auf die Idee kommen, das Vokabularium, das die meisten Eltern im Gespräch mit ihren Kindern verwenden,
einmal zu testen, würde er feststellen, daß das Vokabularium der Bild-Zeitung, damit verglichen, fast das Wörterbuch der Brüder Grimm wäre. Es wird nicht mehr lange dauern, und deutsche Eltern werden mit ihren Kindern nur noch in der Kalick-Sprache sprechen: Oh, wie hübsch und Oh, wie scheußlich; hin und wieder werden sie sich zu differenzierten Äußerungen wie »Keine Widerrede« oder »Davon verstehst du nichts« entschließen. Mit Marie habe ich sogar schon darüber gesprochen, was wir unseren Kindern anziehen würden, sie war für »helle, flott geschnittene
Regenmäntel«, ich für Anoraks, weil ich mir vorstellte, daß ein Kind in einem hellen, flottgeschnittenen Regenmantel nicht in einer Pfütze spielen könnte, während ein Anorak fürs Spielen in der Pfütze günstig wäre, sie - ich dachte immer zunächst an ein Mädchen - wäre warm angezogen und hätte doch die Beine frei, und wenn sie Steine in die Pfütze warf, würden die Spritzer nicht unbedingt den Mantel, möglicherweise nur die Beine treffen, und wenn sie mit einer Blechbüchse die Pfütze ausschöpfte und das schmutzige Wasser vielleicht schief aus der Büchse herauslaufen ließ, brauchte es nicht unbedingt den Mantel zu treffen, jedenfalls war die Chance, daß sie sich nur die Beine beschmutzte, größer. Marie war der Meinung, daß sie sich in einem hellen Regenmantel eben mehr in acht nehmen würde, die Frage, ob unsere Kinder wirklich in Pfützen würden spielen dürfen, wurde nie grundsätzlich geklärt. Marie lächelte nur immer, wich aus und sagte: Wir wollen mal abwarten.
Wenn sie mit Züpfner Kinder haben sollte, könnte sie ihnen weder Anoraks anziehen noch flottgeschnittene, helle Regenmäntel, sie mußte ihre Kinder ohne Mantel laufen lassen, denn wir hatten über alle Mantelsorten ausgiebig gesprochen. Wir hatten auch über lange und kurze Unterhosen, Wäsche,
225
Socken, Schuhe gesprochen - sie mußte ihre Kinder nackt durch Bonn laufen lassen, wenn sie sich nicht als Hure oder Verräterin fühlen wollte. Ich wußte auch gar nicht, was sie ihren Kindern zu essen geben wollte: wir hatten alle Nahrungssorten, alle Ernährungsmethoden durchgesprochen, waren uns einig gewesen, daß wir keine
Stopfkinder haben würden, Kinder, in die dauernd
Weitere Kostenlose Bücher