Ansichten Eines Clowns
sie sagte vom Bett her: »Was soll das? Warum erzählst du mir solchen Unsinn?« - »Weil es das war, woran ich dachte, als du mich gefragt hast.« Sie glaubte mir die ganze Geschichte von dem Jungen nicht, und ich wurde böse. Wir hatten einander noch nie belogen oder der Lüge bezichtigt. Ich wurde so wütend, daß ich sie zwang, aufzustehen, die Schuhe anzuziehen und mit mir in den Bahnhof hinüberzulaufen. Ich vergaß in der Eile den Regenschirm, wir wurden naß und fanden den Jungen im Bahnhof nicht. Wir gingen durch den Wartesaal, sogar zur Bahnhofsmission, und ich erkundigte mich schließlich beim Beamten an der Sperre, ob vor kurzem ein Zug abgefahren sei. Er sagte, ja, nach Bohmte, vor zwei Minuten. Ich fragte ihn, ob ein
Junge durch die Sperre gekommen sei,
klatschnaß, mit blondem Haar, so und so groß, er wurde mißtrauisch und fragte: »Was soll das ? Hat er was ausgefressen?« - »Nein«, sagte ich, »ich will nur wissen, ob er mitgefahren ist.« Wir waren beide naß, Marie und ich, und er blickte uns mißtrauisch von oben bis unten an. »Sind Sie Rheinländer?« fragte er. Es klang, als fragte er mich, ob ich vorbestraft wäre. »Ja«, sagte ich. »Auskünfte dieser Art kann ich nur mit Genehmigung meiner vorgesetzten Behörde geben«, sagte er. Er hatte sicher mit einem Rheinländer schlechte Erfahrungen gemacht, wahrscheinlich beim Militär. Ich kannte einen Bühnenarbeiter, der einmal von einem Berliner beim Militär betrogen worden war und seitdem jeden Berliner und jede Berlinerin wie persönliche Feinde behandelte. Beim Auftritt einer Berliner Artistin schaltete er plötzlich das Licht aus, sie vertrat sich und brach ein Bein. Die Sache wurde nie nachgewiesen, sondern als
»Kurzschluß« deklariert, aber ich bin sicher, daß dieser Bühnenarbeiter das Licht nur ausgeschaltet hat, weil das Mädchen aus Berlin war und er beim Militär von einem Berliner einmal betrogen worden war,. Der Beamte an der Sperre in Osnabrück sah mich mit einem Gesicht an, daß mir ganz bange wurde. »Ich habe mit dieser Dame gewettet«, sagte ich, »es geht um eine Wette.« Das war falsch, weil es gelogen war und jeder mir sofort ansieht, wenn ich lüge. »So«, sagte er, »gewettet. Wenn Rheinländer schon anfangen zu wetten.« Es war nichts zu machen. Einen Augenblick lang dachte ich daran, ein Taxi zu nehmen, nach Bohmte zu fahren, dort am Bahnhof auf den Zug zu warten und zu sehen, wie der Junge ausstieg. Aber er konnte ja auch in irgendeinem Nest vor oder hinter Bohmte aussteigen. Wir waren klatschnaß und froren, als wir ins Hotel zurückkamen. Ich schob Marie in die Kneipe unten, stellte mich an die Theke, legte meinen Arm um sie und bestellte Kognak. Der Wirt, der gleichzeitig Hotelbesitzer war, sah uns an, als hätte er am liebsten die Polizei gerufen. Wir hatten am Tag davor stundenlang Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt, uns Schinkenbrote
und Tee heraufbringen lassen, am Morgen war
Marie ins Krankenhaus gefahren, blaß zurückgekommen. Er stellte uns den Kognak so hin, daß er halb überschwappte, und blickte ostentativ an uns vorbei. »Du glaubst mir nicht?« fragte ich Marie, »ich meine mit dem Jungen.« - »Doch«, sagte sie, »ich glaub's dir.« Sie sagte es nur aus Mitleid, nicht, weil sie mir wirklich glaubte, und ich war wütend, weil ich nicht den Mut hatte, den Wirt wegen des verschütteten Kognaks zur Rede zu stellen. Neben uns stand ein schwerer Kerl, der schmatzend sein Bier trank. Er leckte sich nach jedem Schluck den Bierschaum von den Lippen, sah mich an, als wollte er mich jeden Augenblick ansprechen. Ich fürchte mich davor, von halbbetrunkenen Deutschen einer bestimmten Altersklasse angesprochen zu werden, sie reden immer vom Krieg, finden, daß es herrlich war, und wenn sie ganz betrunken sind, stellt sich raus, daß sie Mörder sind und alles »halb so schlimm« finden. Marie zitterte vor Kälte, sah mich kopfschüttelnd an, als ich unsere Kognakgläser über die Nickeltheke dem Wirt zuschob. Ich war erleichtert, weil er sie diesmal vorsichtig zu uns rüberschob, ohne etwas zu verschütten. Es befreite mich von dem Druck, mich feige zu fühlen. Der Kerl neben uns schlürfte einen Klaren in sich hinein und fing an, mit sich selbst zu sprechen. »Vierundvierzig«, sagte er, »haben wir Klaren und Kognak eimerweise getrunken - vierundvierzig eimerweise - den Rest kippten wir auf die Straße und steckten ihn an ... kein Tropfen für die Schlappohren.« Er lachte. »Nicht ein Tropfen.«
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