Ansichten Eines Clowns
Als ich unsere Gläser noch einmal über die Theke dem Wirt zuschob, füllte er nur ein Glas, sah mich fragend an, bevor er das zweite füllte, und ich merkte jetzt erst, daß Marie gegangen war. Ich nickte, und er füllte auch das zweite Glas. Ich trank beide leer, und bin heute noch erleichtert, daß es mir gelang, danach wegzugehen. Marie lag weinend oben auf dem Bett, als ich meine Hand auf ihre Stirn legte, schob sie sie weg, leise, sanft, aber sie schob sie weg. Ich setzte mich neben sie, nahm ihre Hand, und sie ließ sie mir. Ich war froh. Es wurde schon dunkel draußen, ich
saß eine Stunde neben ihr auf dem Bett
und hielt ihre Hand, bevor ich anfing zu sprechen. Ich sprach leise, erzählte noch einmal die Geschichte von dem Jungen, und sie drückte meine Hand, als wollte sie sagen: Ja, ich glaub's dir ja. Ich bat sie auch, mir doch genau zu erklären, was sie im Krankenhaus mit ihr gemacht hatten, sie sagte, es wäre eine »Frauensache« gewesen,
»harmlos, aber scheußlich.« Das Wort Frauensache flößt mir Schrecken ein. Es klingt für mich auf eine böse Weise geheimnisvoll, weil ich in diesen Dingen vollkommen unwissend bin. Ich war schon drei Jahre mit Marie zusammen, als ich zum erstenmal etwas von dieser »Frauensache« erfuhr. Ich wußte natürlich, wie Frauen Kinder bekommen, aber von den Einzelheiten wußte ich nichts. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und Marie schon drei Jahre meine Frau, als ich zum erstenmal davon erfuhr. Marie lachte damals, als sie merkte, wie ahnungslos ich war. Sie zog meinen Kopf an ihre Brust und sagte dauernd: »Du bist lieb, wirklich lieb.« Der zweite, der mir davon erzählte, war Karl Emonds, mein Schulkamerad, der dauernd mit seinen fürch- terlichen Empfängnistabellen hantiert.
Später ging ich noch für Marie zur Apotheke, holte ihr ein Schlafmittel und saß an ihrem Bett, bis sie eingeschlafen war. Ich weiß bis heute nicht, was mit ihr los gewesen war und welche Komplikationen die Frauensache ihr gemacht hatte. Ich ging am anderen Morgen in die Stadtbibliothek, las im Lexikon alles, was ich darüber finden konnte, und war erleichtert. Gegen Mittag fuhr Marie dann allein nach Bonn, nur mit einer Tasche. Sie sprach gar nicht mehr davon, daß ich mitfahren könnte. Sie sagte: »Wir treffen uns dann übermorgen wieder in Frankfurt.«
Nachmittags, als die Sittenpolizei kam, war ich froh, daß Marie weg war, obwohl die Tatsache, daß sie weg war, für mich äußerst peinlich wurde. Ich nehme an, daß der Wirt uns angezeigt hatte. Ich gab Marie natürlich immer als meine Frau aus, und wir hatten nur zwei- oder dreimal Schwierigkeiten deswegen gehabt. In Osnabrück
wurde es peinlich. Es kamen eine Beamtin und ein Beamter in Zivil, sehr höf-
lich, auf eine Weise exakt, die ihnen wahrscheinlich als »angenehm wirkend« einexerziert worden war. Bestimmte Formen der Höflichkeit bei Polizisten sind mir besonders unangenehm. Die Beamtin war hübsch, nett geschminkt, setzte sich erst, als ich sie dazu aufgefordert hatte, nahm sogar eine Zigarette an, während ihr Kollege
»unauffällig« das Zimmer musterte. »Fräulein Derkum ist nicht mehr bei Ihnen?« -
»Nein«, sagte ich, »sie ist vorgefahren, ich treffe sie in Frankfurt, übermorgen.« - »Sie sind Artist?« Ich sagte ja, obwohl es nicht stimmt, aber ich dachte, es sei einfacher, ja zu sagen. »Sie müssen das verstehen«, sagte die Beamtin, »gewisse Stichproben müssen wir schon machen, wenn Durchreisende abortive — sie hüstelte — Erkrankungen haben.« - »Ich verstehe alles«, sagte ich - ich hatte im Lexikon nichts von abortiv gelesen. Der Beamte lehnte es ab, sich zu setzen, höflich, sah sich aber weiter unauffällig um. »Ihre Heimatadresse?« fragte die Beamtin. Ich gab ihr unsere Bonner Adresse. Sie stand auf. Ihr Kollege warf einen Blick auf den offenen Kleiderschrank. »Die Kleider von Fräulein Derkum?« fragte er. »Ja«, sagte ich. Er blickte seine Kollegin »vielsagend« an, sie zuckte mit den Schultern, er auch, sah noch einmal genau den Teppich an, bückte sich über einen Flecken, sah mich an, als erwarte er, daß ich den Mord jetzt gestehen würde. Dann gingen sie. Sie waren bis zum Schluß der Vorstellung äußerst höflich. Sobald sie weg waren, packte ich hastig alle Koffer, ließ mir die Rechnung heraufbringen, vom Bahnhof einen Gepäckträger schicken und fuhr mit dem nächsten Zug weg. Ich bezahlte dem Hotelier sogar den angebrochenen Tag. Das Gepäck gab ich nach Frankfurt auf
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