Fix und forty: Roman (German Edition)
EINS
Der Bräutigamvetter
Als ich dreiundvierzig Jahre alt wurde, erkannte ich, dass ich meine mennonitischen Gene nie genug gewürdigt hatte. Ich hatte mich immer darauf verlassen, dass ich genetisch dazu veranlagt war, bei bester Gesundheit zu bleiben, wie meine Mutter, die sich nicht einmal einen Schnupfen holt. Alle Verwandten mütterlicherseits – die Loewens – erfreuen sich einer fast übernatürlich guten Gesundheit, von Brustkrebs und Polio mal abgesehen. Heute ist Polio so gut wie abgehakt, dank Jonas Salk und seinem Händchen für weltweit brauchbare Impfungen. Vor Jonas Salk – als meine Mutter klein war – hatte Polio ihren jüngeren Bruder Abe zum Krüppel gemacht und den Arm ihrer Lieblingsschwester Gertrude verkümmern lassen. Die tapfere Trude hat später einarmig zwei Kinder großgezogen und ihrem verkümmerten Arm den Spitznamen Stinky gegeben.
Ja, ich finde, »Stinky« ist ein niedlicher Name für einen verkümmerten Arm.
Nein, ich würde meinem verkümmerten Arm lieber einen würdigeren Namen geben, Reynaldo zum Beispiel.
Obwohl auch Brustkrebs in der Familie liegt, hat er eigentlich nie eine größere Rolle gespielt. Er tritt bei uns erst spät im Leben auf, schrumpelt vielleicht eine oder beide Brüste ein und kapituliert dann meistens vor den vereinten Kräften von Chemotherapie und Buttermilch. Das heißt, er würde unsere Brüste einschrumpeln, wenn wir welche hätten, was nicht der Fall ist.
Als junge Mädchen waren meine Schwester Hannah und ich natürlich gespannt, ob wir mehr nach unserer Mutter oder nach unserem Vater kämen. Es stand viel auf dem Spiel. Nach einer schmerzhaft uncoolen Kindheit ahnten wir, dass uns unser genetisches Erbe an eine schicksalhafte Wegscheide führte. Dad war sehr gutaussehend, aber ein Miesepeter; Mom war optisch reizlos, doch von sonnigem Gemüt. Schafften wir es, den Ansprüchen der normalen Gesellschaft zu genügen, oder katapultierte unsere mennonitische Herkunft uns für alle Zeiten ins soziale Aus?
Bis zu seiner Pensionierung war mein Vater das Oberhaupt der Nordamerikanischen Mennoniten-Konferenz für Kanada und die USA und damit quasi das mennonitische Pendant zum Papst, allerdings mit einer Vorliebe für karierte Shorts und bis zu den Knien hochgezogene schwarze Anzugsocken. Ja, in dem komplexen moralischen Universum der erwachsenen Mennoniten ist es möglich, attraktiv zu sein und trotzdem kein bisschen Stilgefühl zu besitzen. Mein Vater ist sich womöglich nicht einmal bewusst, wie gut er aussieht. Er ist Theologe und glaubt an einen liebenden Gott, ein dienendes Herz und Seniorenrabatt. Würde es Gott gefallen, wenn wir unnötige einunddreißig Cent mehr bei McDonald’s ausgäben? Ich glaube kaum.
Mit seinen eins fünfundneunzig und dem klassisch schönen Gesicht ist mein Vater ein Mann von beeindruckendem Format, der charismatische Beredsamkeit und nüchterne, scharfsichtige Autorität in sich vereint. Es könnte natürlich sein, dass seine Weisheit und sein Ernst ihn noch schöner wirken lassen, als er ist, jedenfalls gehört mein Vater – aus welchem Grund auch immer – zu den Menschen, denen die Leute unweigerlich an den Lippen hängen. Bei den Predigten dieses Mannes schlafen Sie bestimmt nicht ein! Selbst als Atheist würden Sie unwillkürlich mitschunkeln und rufen wollen: Sie sagen es, Reverend!
Doch das mit dem Schunkeln und Rufen können Sie gleich wieder vergessen. In einer Mennoniten-Kirche sitzt man ganz still und preist Jesus allein mit Herz, Geist und Seele, regungslos wie im letzten Lähmungsstadium nach einem Schlangenbiss.
Womöglich bin ich die Erste, die das gute Aussehen meines Vaters in geschriebener Form erwähnt. Für einen internationalen Mennoniten-Führer gilt Schönheit nämlich als vollkommen überflüssige Eigenschaft, geht es bei den Mennoniten doch allein ums Dienen. Theoretisch wissen wir gar nicht, wie wir aussehen, da jedes Interesse an unserem persönlichen Erscheinungsbild ein Zeichen von Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist. Unsere Abneigung gegen Eitelkeiten erklärt auch den Hang vieler von uns, diese trutschigen langen Röcke und Spitzendeckchen auf dem Kopf zu tragen, eine Idee, die sich nur durchsetzen konnte, weil wir anscheinend irgendwann kollektiv beschlossen haben, morgens beim Anziehen nicht hinzusehen.
Meine Mutter ist, im Gegensatz zu meinem Vater, keine klassische Schönheit. Dafür erfreut sie sich bester Gesundheit. Sie ist heiter wie eine Lerche an einem
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