Anthrax
Koffer, seinem gefälschten Paß und dem Flugticket. Er ging zur Seitentür der Garage, bedachte den Wagen mit einem letzten bewundernden Blick und knipste das Licht aus. Bevor er die Tür öffnete, schob er die rechte Hand in seine Jackentasche und umklammerte die Pistole. Er hatte immer noch Angst, daß Flash Thomas plötzlich bei ihm auftauchte, wobei er zu dieser späten Stunde eigentlich eher weniger mit ihm rechnete. Zumindest mußte er sich keine Gedanken mehr um den Gerichtsmediziner Jack Stapleton machen.
Während er vor sich hingrübelnd die Tür öffnete, fragte er sich, warum er nicht schon viel früher gemerkt hatte, wie verrückt Curt war. Steve war auch ziemlich seltsam, aber längst nicht so wie Curt. Yuri hatte zwar keine Ahnung von Psychologie; aber er vermutete, daß Curt als Kind irgend etwas Furchtbares erlebt haben mußte, das seine Persönlichkeit nachhaltig geprägt hatte. In Yuris Augen waren Amerikaner habgierig, brutal und ziemlich intolerant, wobei Curt den Durchschnitt sogar noch übertraf: Er hielt seine Weltanschauung für die einzig richtige und ließ keine andere Meinung gelten. Doch was ihm an Curt am meisten störte, waren dessen Vorurteile gegen Slawen, die im Laufe ihrer Bekanntschaft immer deutlicher zutage traten. Gerade wollte er die Tür zur Küche aufschließen, als er plötzlich innehielt. Seine Grübelei über Curts gestörte Persönlichkeit hatte in ihm eine neue Sorge geweckt. War es angesichts von Curts selbstsüchtigem Verhalten nicht durchaus denkbar, daß er auch den Biowaffenanschlag im Central Park für die People’s Aryan Army reklamieren würde – obwohl er und seine Skinhead-Truppe in Wahrheit nichts damit zu tun hatten?
»Chert!« fluchte Yuri leise vor sich hin. Die Sorge war absolut berechtigt. Fieberhaft machte er sich nun an dem Rezeptur-Umschlag zu schaffen.
»Mr. Davydov?« meldete sich plötzlich eine weibliche Stimme.
Geschockt, seinen Namen zu hören, richtete er seinen Blick auf die schmale Straße. Obwohl die Häuser der Siedlung äußerst dicht beieinander standen, hatte er nie Kontakt zu seinen Nachbarn gesucht. Er umklammerte die Pistole. »Entschuldigen Sie! Sind Sie Mr. Davydov?« Yuri blinzelte, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können. Da seine Außenbeleuchtung nicht angeschaltet war und es in der Oceanview Lane keine Straßenlaternen gab, konnte er gerade zwei Gestalten ausmachen, die hinter dem Maschendrahtzaun auf der Straße standen. Als er sah, daß es sich um zwei Weiße handelte, entspannte er sich. Zumindest war keiner von ihnen Flash Thomas. »Wer sind Sie?« fragte Yuri zurück.
»Ich bin Dr. Laurie Montgomery. Falls Sie Mr. Davydov sind, müßte ich dringend mit Ihnen reden. Es dauert nicht lange.«
Yuri zuckte mit den Achseln und ging auf den Zaun zu. Die Pistole hielt er umklammert, so daß er sie bei Bedarf jederzeit ziehen konnte. Die zweite Gestalt war ein Mann. »Es tut mir leid, daß wir Sie so spät noch stören«, begann Laurie. »Ich bin Gerichtsmedizinerin beim Gerichtsmedizinischen Institut in Manhattan. Wissen Sie, was ein Gerichtsmediziner ist?«
Yuri wollte antworten, brachte jedoch kein Wort über die Lippen, als er trotz der Dunkelheit erkannte, wer neben Dr. Montgomery stand. Es war Jack Stapleton! Laurie faßte das Schweigen als ›Nein‹ auf und erklärte ihm kurz, was zu den Aufgaben eines Gerichtsmediziners gehörte.
Yuri schluckte, doch selbst das bereitete ihm Schwierigkeiten. Wieso, in aller Welt, stand da dieser Dr. Stapleton vor ihm? Was, um Himmels willen, war passiert? Warum hatte Curt ihn nicht informiert? Doch im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß er ja die Telefonschnur aus dem Stecker gezogen hatte. »Wir sind hier, weil Ihre Frau, wie sich inzwischen herausgestellt hat, offenbar an einer Vergiftung durch Botulinustoxin gestorben ist. Wissen Sie, was Botulismus ist?« Yuri nickte. Er hörte sein Herz irrsinnig laut pochen und hatte Angst, daß seine beiden Besucher es ebenfalls hörten. Was sollte er jetzt tun? Sollte er versuchen, sie loszuwerden? Oder sollte er sie in seine Wohnung bitten und auf Curt warten? Er hatte beim besten Willen keine Ahnung. »Wir befürchten, daß sich die Erregerquelle möglicherweise immer noch in Ihrem Haus befindet«, fuhr Laurie fort. »Hat Ihre Frau Lebensmittel eingemacht?«
»Weiß ich nicht«, stammelte Yuri.
»Das müssen wir unbedingt herausfinden«, insistierte Laurie. »Wobei es allerdings auch noch andere potentielle Verursacher gibt.
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