Anti-Eis
flüsterte ich Pocket zu.
»Das ist Gladstone selbst!«
Der Premierminister verabschiedete sich von Traveller; mit einem
Schnalzen der Peitsche setzte der Kutscher die Kalesche in Bewegung.
Traveller schritt langsam die Front seines Hauses ab und studierte
abwesend den Efeu, der sich an den Ziegelsteinen emporrankte. Ich
wollte schon zu ihm hinlaufen, aber Pocket hielt mich am Ärmel
fest und signalisierte ein ›Nein‹; und so warteten wir, bis
Sir Josiah uns seinerseits erreichte.
Schließlich stand er vor uns. Er straffte die Schultern,
zentrierte den Hut korrekt um den Mittelpunkt des Schädels und
verschränkte die Hände hinter dem Rücken; die
Platinnase glitzerte im schwachen Licht der Novembersonne. »Nun,
Ned«, sagte er mit einer Stimme, die so kraftlos war wie die
Sonne. »Ich habe Euch ankommen hören. Ich bitte um
Verzeihung; ich war – beschäftigt.«
»Das war der Premierminister, nicht wahr?« fragte ich
ohne vorherige Begrüßung.
»Ihr müßt die Gewohnheit ablegen, auf
offensichtliche Dinge zu rekurrieren«, rügte er mich; aber
sein Tonfall klang abwesend.
»Ich habe von Bazaines Kapitulation bei Metz
gehört.«
»Ja.« Er musterte mich intensiv. »So stand es in
den Zeitungen. Es gibt indessen Neuigkeiten von der Albert.«
Plötzlich dachte ich nur noch an Françoise, und ich
rief: »Welche Neuigkeiten? Ihr müßt es mir
sagen.«
»Ned…« Er ergriff meine Arme. »Die Albert ist zu einem Kampffahrzeug umgerüstet worden. Die
französischen Saboteure, die…« Er suchte nach dem
Begriff.
»Die Franktireurs.«
»Sie haben sie übernommen, Kanonen installiert und sie
in eine gigantische mobile Burg verwandelt. Und sie nehmen damit Kurs
auf Paris, wo sie die Belagerung durch die Preußen durchbrechen
wollen. Ned, das ist völliger Wahnsinn. Die Albert ist
ein Passagierschiff und kein Kriegsschiff. Eine gut gezielte Granate,
und sie wäre erledigt…«
Die durch seine Worte heraufbeschworenen Bilder waren so
phantastisch, daß es mir fast nicht möglich war, sie in
einen Kontext einzuordnen. »Und die Passagiere? Was ist mit
ihnen?«
»Das wissen wir nicht.«
»Und was hatte das hier zu bedeuten«, fragte ich etwas
ruppig. »Der Premierminister von Großbritannien
betätigt sich doch nicht als Melder, wie dramatisch die
Nachrichten auch sein mögen, Sir Josiah.«
»Nein, natürlich nicht.« Sein Blick glitt von
meinem ab, und sein Gesicht nahm wieder diesen gespannten, gehetzten
Ausdruck an, der mir schon im Bauernhaus der Lubbocks aufgefallen
war. »Mit der Nachricht von der Albert wollte Glad Eyes
sich bei mir einschmeicheln. Ich vermute, daß er mir einen
Bezug zwischen dem europäischen Krieg und meinen eigenen
Belangen suggerieren wollte.
Die Regierung ist zu einer Entscheidung gelangt, wie Ihr seht.
Metz ist gefallen, ja; aber Paris hält entgegen allen
Erwartungen stand, selbst um den Preis, daß die Einwohner
hungern. Mittlerweile klingen die Preußen immer kriegerischer
und großsprecherischer. Ein gerechter Frieden scheint in diesem
Krieg kaum möglich zu sein; und die Regierung findet es recht
bedauerlich, daß die Europäer nicht mehr in der Lage sind,
einen ritterlichen Krieg zu führen und ihn gemäß den
Regeln zu beenden.« Er schüttelte den Kopf. »Gladstone
ist der Ansicht, daß Europa vielleicht für eine Generation
in völligem Chaos versinkt, falls Britannien nicht interveniert.
Das sagt er zwar, glaubt es aber selbst nicht. Britannien verfolgt
wie üblich seine eigenen Ziele, und Gladstone würde mir
alles mögliche erzählen, um mich zur Zusammenarbeit zu
bewegen. Und doch – und doch, was, wenn Wahrheit in dem ist, was
er sagt? Mit welchem Recht darf ich mich dem Gang der Geschichte
entgegenstellen?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die
Stirn, schob den Hut zurück und schüttelte den Kopf.
Ich ergriff seinen Arm. »Sir Josiah, hat er von Euch
verlangt, wieder Eure Anti-Eis-Waffe aus dem Krimkrieg
einzusetzen?«
»Nein. Nein, Ned; sie wollen neue Waffen… Sie haben
Pläne, die Ihr Euch nicht vorstellen könnt. Wie können
menschliche Wesen, Menschen wie Ihr und ich, nur mit solchen Gedanken
im Kopf herumlaufen?… Und sie drohen damit, mir im Falle einer
Weigerung die Gelder zu streichen.« Er lachte bitter. »Was
schon schlimm genug wäre. Sie würden mich aus meinem Haus
vertreiben und mir den Zugang zum Anti-Eis verweigern; und eine
Gruppe von weniger fähigen Leuten würde eingesetzt werden,
um ihnen an meiner Stelle zu Willen zu
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