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Anti-Eis

Anti-Eis

Titel: Anti-Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Granatsplittern.
Nur eine Leiter, so sah ich, war wie durch ein Wunder gegen die
dräuende Mauer der Festung gelehnt worden: Ihre Träger
lagen verkrümmt auf einem lehmigen Haufen, dessen Basis
überall von Armen und Beinen umgeben war. Und die russischen
Geschütze starrten ungerührt aus jeder Öffnung der
Redoute.
    Es wurde zum Rückzug geblasen, und unter einem neuerlichen
Schrapnellhagel unserer unfreiwilligen Gastgeber schleppten wir uns
zu unseren Schützengräben zurück.
    Und so endete mein erster Kampfeinsatz, Vater; und an jenem Abend
legte ich mich aufgewühlt schlafen. Denn wie konnte ein derart
absurdes, stümperhaftes Vorgehen den Tod so vieler guter
Männer rechtfertigen?
    Die nächste Woche wurde eine harte Zeit. Denn Stunde um
Stunde erschienen grob zusammengezimmerte Karren zwischen unseren
Zelten und Unterständen, und unsere armen verwundeten Kameraden
wurden aufgeladen und über eine Rüttelpiste zum drei Meilen
entfernten Lazarett an der Küste gebracht.
    Ihre Schreie und das Weinen waren schrecklich anzuhören.
    Und Tag und Nacht, als ob sie uns wegen unseres Versagens und
unserer Frustration noch verhöhnen wollte, orgelte die russische
Artillerie.
    Nicht weniger beunruhigend waren die Anzeichen der Querelen, die
wir unter unseren kommandierenden Offizieren registrierten. Die
Lagebesprechungen fanden rund um die Uhr statt, und mehr als einmal
sah ich, wie ein großer Gentleman aus Lord Raglans Zelt kam und
hocherzürnt im Lager umherstiefelte, mit narbigen Wangen, die
feuerrot waren vor Zorn, und weißen Handschuhen, die auf die an
der Seite baumelnde Säbelscheide schlugen. Und mehrmals sahen
wir den Ingenieur, Traveller, der über den Lagerplatz zu Raglans
Zelt trottete und mysteriöse Pläne und andere Unterlagen
bei sich hatte; und daher wußten wir, daß der Einsatz
dieser seltsamen Substanz, des Anti-Eises, nun zumindest doch in
Erwägung gezogen wurde.
    Aber Lord Raglan selbst bekamen wir nicht zu Gesicht.
    Ich stellte mir diesen Gentleman vor, Vater, sein Gesicht von
Sorge und Krankheit gezeichnet und den Kopf voller Erinnerungen an
Waterloo und den ›Iron Duke‹, im Auge eines Hurrikans aus
Respektlosigkeit und Befragungen.
    Schließlich, am 27. Juni, ließ unser Hauptmann uns
antreten. Mit düsterem Gesichtsausdruck informierte er uns,
daß Lord Fitzroy Raglan am Vortage, dem 26., gestorben sei;
daß General Sir Simpson zu unserem neuen Oberkommandierenden
ernannt worden sei; und daß wir uns in den nächsten
vierundzwanzig Stunden auf einen neuen Angriff vorbereiten sollten.
Diesem Angriff, so fügte der Hauptmann hinzu, würde
»ein neuerliches Artillerie-Sperrfeuer von bisher nicht
gekannter Intensität vorausgehen«.
    Dann wandte er sich stocksteif von uns ab und sagte nichts
mehr.
    Wir wurden nie über die Ursache von Raglans Tod unterrichtet.
Manche sagen, er sei an Enttäuschung gestorben, nach diesem
letzten, gescheiterten Angriff auf die russischen Redouten; ich kann
das jedoch nicht glauben. Denn noch vor einem Monat, als er unser
Lager besuchte, Vater, schienen sich Sorge und Müdigkeit in
dieses edle Gesicht eingegraben zu haben. Nun, Gott möge
verhüten, daß Ihr jemals eines Opfers der Cholera
ansichtig werdet, Sir – ich selbst habe schon zu viele gesehen
–, aber wenn es Euch dennoch widerfährt, werdet Ihr, dessen
bin ich sicher, die ausgezehrte, leidende Erscheinung dieser
Unglücklichen bemerken; und deswegen besteht bei mir auch kein
Zweifel an Raglans Todesursache.
    Männer wie Raglan sterben nicht an gebrochenem Herzen, meine
ich.
    In dieser Nacht zogen wir uns in unsere schlammigen
Unterstände zurück. Ich schlief nicht gut, Vater, aber
nicht vor Furcht oder Aufregung und nicht einmal wegen des
ständigen Brüllens der Artillerie; vielmehr muß ich
gestehen, daß ich in eine Depression verfiel, angesichts des
Todes so vieler guter Kameraden – und jetzt auch noch des
Ablebens von Lord Raglan – bei einem so geringen Erfolg. In
jener Nacht schien es mir, als ob die ganze englische Armee selbst im
Sterben läge, dort in den Ebenen der Krim.
    In der Morgendämmerung wurden wir geweckt. Die Hörner
und Trommeln schwiegen, aber nichtsdestoweniger wurde uns befohlen,
in Exerzierformation anzutreten und uns auf den Marsch
vorzubereiten.
    Und so trat ich an, mit in die Ärmel geschobenen Händen,
um sie vor der Kälte der grauen Dämmerung zu schützen,
und der Riemen meines Gewehres schabte an meinem unrasierten Hals.
Das Sperrfeuer der hinter uns

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