Anti-Eis
Wochen verpaßt! Sicherlich wird sich diese
Demütigung Frankreichs für Generationen in die Seelen der
Franzosen fressen. Sie waren ja schon immer so impulsiv –
betrachtet zum Beispiel nur Bourne. Sicher wird für alle Zeiten
ein Kriegszustand zwischen den Franzosen und ihren deutschen Vettern
bestehen.«
»Vielleicht.« Traveller lehnte sich in seinem Rollstuhl
zurück, wobei er die knochigen Hände über der Kutte
gefaltet hatte, die seinen Bauch bedeckte, und starrte blicklos durch
die staubigen Fenster des Bauernhauses. Als das Sonnenlicht über
die weißen Haarsträhnen spielte, die von seinem Kopf
abstanden, wirkte er so alt und gebrechlich wie in jenem Moment, als
es schien, daß nicht einmal der Mond unser Leben retten
würde. »Aber es ist nicht das ›für alle
Zeiten‹, das mich beunruhigt, Ned; es ist das Hier und
Jetzt.«
»Was beunruhigt Euch denn, Sir?«
»Denkt doch einmal nach, Junge«, erwiderte er barsch mit
einem Anflug seiner alten Reizbarkeit. »Ihr wollt doch Diplomat
sein. Die Preußen haben Frankreich bezwungen. Sicherlich kann
nicht einmal der schlaue alte Fuchs Bismarck einen derart
erstaunlichen Erfolg vorhergesehen haben – noch dazu in
Ergänzung seines eigentlichen Zieles.«
»Das da wäre?«
»Ist das denn nicht klar?« Er musterte mich müde.
»Die Vereinigung Deutschlands natürlich. Welch
günstigere Gelegenheit könnte es geben, die Fürsten
der deutschen Kleinstaaten zu einer politischen Einheit zu bewegen,
als die Präsentation eines gemeinsamen Feindes? – und wie
günstig, wenn dieser Feind das unsympathische Frankreich eines
Robespierre und Bonaparte ist. Ich prophezeie, daß wir die
Deklaration eines neuen Deutschland erleben werden, noch bevor dieses
Jahr verstrichen ist. Aber natürlich wird es kaum mehr sein als
ein größeres preußisches Reich, denn wenn diese
baierischen Operettenprinzen zu der Ansicht gelangen, daß
Bismarck in seinem Pomp und Triumph ihnen kaum ein großes
Mitspracherecht bei der Führung dieses neuen Gebildes
einräumt, werden sie zutiefst enttäuscht sein.«
Ich nickte nachdenklich. »Das Gleichgewicht der Kräfte
ist also zerbrochen; jenes Gleichgewicht, das seit dem Wiener
Kongreß Bestand gehabt hat…«
»Ein Gleichgewicht, um dessen Bewahrung Britannien immer
gekämpft hat.« Er trommelte mit den Fingern auf die
Tischplatte. »Laßt uns offen miteinander reden, Ned. Die
britische Regierung würde es mit Gelassenheit aufnehmen, wenn
preußische Geschütze Paris zusammenschießen
würden; denn in den Köpfen der Briten werden die Franzosen
von den Zwillingsdämonen der Revolution und des
militärischen Expansionismus beherrscht. Und diese absurden
Franktireur-Attacken auf britische Wirtschaftsziele wie die gute alte Prince Albert dürften ihnen auch kaum Sympathien
verschaffen.
Aber die Entstehung eines neuen Deutschlands wird in Whitehall mit
großer Sorge verfolgt. Denn es ist schon seit langem ein Ziel
der britischen Außenpolitik, daß es keine dominierende
Macht in Mitteleuropa geben dürfe.«
Betroffen von dieser zynischen Betrachtungsweise britischer Ziele
runzelte ich die Stirn – denn sicher war die Durchsetzung einer
friedlichen Lösung zu befürworten. »Sagt mir, wovor
Ihr Euch fürchtet, Sir«, verlangte ich direkt.
Seine knochigen Finger verstärkten ihr Stakkato. »Ned,
bis jetzt haben die Briten sich aus Bismarcks verdammtem Krieg
herausgehalten, und das aus gutem Grund. Aber wie lange noch, bis
britische Interessen durch das erstarkende Deutschland so
gefährdet werden, daß sie sich zur Intervention
veranlaßt sehen?«
Ich dachte darüber nach. »Aber die britische Armee,
obschon die beste der Welt, verfügt nicht über die
erforderliche Ausrüstung für großräumige
Operationen in Mitteleuropa. Und sie hat auch nie darüber
verfügt. Außerdem sind viele unserer Soldaten und
Offiziere auf der ganzen Welt im Dienste Seiner Majestät in den
Kolonien verstreut. Sicherlich würde Mr. Gladstone uns nicht in
ein chancenloses außenpolitisches Abenteuer schicken.«
»Gladstone. Old Glad Eyes.« Er lachte freudlos.
»Ich hatte immer schon den Eindruck, daß Gladstone ein
affektierter Depp ist und Disraeli weder charakterlich noch
intellektuell das Wasser reichen kann. Offensichtlich wäre
Disraelis Einführung eines allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1867
ein Desaster für das Land geworden… Wer weiß, welcher
Schaden dadurch angerichtet worden wäre? Sicher wäre der
Industrie die ihr zustehende Mitwirkung an der
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