Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
12. Mai 1884, Fleischl ginge es nicht gut und er sehe keinerlei Erfolg. Aus diesem Grund vernichtete er 1885 Notizen, Dokumente, Zeitschriften, Briefe und andere Unterlagen. Er wollte »seinen« künftigen Biographen die Sache nicht leicht machen. So verschwand Über die Allgemeinwirkung des Cocains aus seiner Biographie.
Als Freud in »Selbstdarstellung« (1924), jenem Werk, das zusammen mit dem Beitrag Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914) den Grundstein der selbstverfassten Legende legte, erneut auf diese Zeit zu sprechen kam, gab er seiner Verlobten die Schuld daran, nicht schon in jungen Jahren berühmt geworden zu sein. Tatsächlich hatte er Martha, die seit vier Jahren auf ihn wartete, besucht, und im Moment seiner Abwesenheit entdeckte sein Assistent im Labor, was er selbst nicht herausgefunden hatte, nämlich die anästhesierende Wirkung des Kokains. Freud gab sich großmütig; gegen seine Verlobte hege er wegen dieser »verpassten Gelegenheit« keinen Groll. In einer Version desselben Texts von 1935 ersetzte er die Formulierung durch »Störung«.
Ernest Jones attestierte Freud in seiner monumentalen Hagiographie Sigmund Freud – Leben und Werk, dieser habe zwischen 1890 und 1900 an einer »ausgesprochenen Psychoneurose« (Bd. I, S. 356) gelitten. Der Legende zufolge wurde er davon durch mutige Selbstanalyse geheilt – die in Wahrheit eine ganz banale Innenschau war, im Zuge derer er den unbekannten Kontinent namens Unbewusstes entdeckte.
Der Therapeut mit den vielen Gesichtern
1886 (13. September): Freud, der sich überall als Atheist ausgab, forderte einen Tag nach der standesamtlichen Hochzeit auch die kirchliche Trauung.
Seine Praxis eröffnete Freud am Tag des Auszugs der Juden aus Ägypten. Dem Anführer Moses als mythischer Figur widmete er ein Buch, in dem er darlegte, der Vater der Juden sei kein Jude gewesen.
(15. Oktober): Freud sprach vor illustrem Publikum und Mitgliedern der Gesellschaft der Ärzte in Wien über seine Theorie der männlichen Hysterie, erntete jedoch keine Begeisterung. Er reagierte verletzt und behauptete, er sei dort nicht gut aufgenommen, hinausgeworfen und seines Labors verwiesen worden. Ungeachtet dieser Episode aus »Selbstdarstellung« (Bd. XIV, S. 39) nahm er weiter an den Sitzungen der Gesellschaft teil – so auch am 21. April 1896. Er verzichtete erst auf die Treffen, als er merkte, dass sie ihm weder Erfolg noch Geld oder Ruhm einbrachten.
Von 1886 bis 1890 praktizierte Freud die Elektrotherapie. An Fließ schrieb er am 24. November 1887, er nutze die »galvanische Behandlung« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 4). Zuweilen verschrieb er auch Heilbäder, doch diese waren »keine zureichende Erwerbsquelle« ( »Selbstdarstellung«, Bd. XIV, S. 40).
1887 (16. Oktober): Geburt von Freuds Tochter Mathilde. Er benannte sie nach Breuers Frau. Ende 1887, während er noch die Elektrotherapie praktizierte, begann Freud mit Hypnosen, von denen er sich ein gut besetztes Wartezimmer versprach.
Zwischen 1887 und 1904 wechselten Fließ und er im Durchschnitt alle zehn Tage einen Brief und sandten einander auch umfangreiche Manuskripte. Der Briefwechsel offenbart einen ängstlichen, erratischen, ehrgeizigen, raffgierigen, sturen, unbedarften, zyklothymischen, depressiven, ängstlichen, phobischen, kokainsüchtigen Freud. Später vernichtete er Fließ’ Briefe. Als er entdeckte, dass die eigenen Briefe an Fließ bei einem Buchhändler zum Verkauf standen, wollte er auch diese vernichten. Nach einer wahren Odyssee wurden sie zunächst nur in bereinigter Form veröffentlicht. Die erste vollständige französische Ausgabe erschien 2006 (die deutsche 1986).
1888: Freud praktizierte Handauflegen und eine Art Gesichtsmassage ( Über Psychoanalyse, Bd. VIII, S. 252–312).
1889 (7. Dezember): Geburt seines Sohnes Jean-Martin, dessen Vorname eine Hommage an Charcot war.
1891 (19. Februar): Geburt seines Sohnes Oliver, der nach dem Diktator und Königsmörder Cromwell benannt wurde.
Freud zog in die Berggasse 19.
1892 (6. April): Geburt des Sohnes Ernst, der seinen Namen zu Ehren von Freuds Physiologielehrer Brücke bekam.
1893 (12. April): Geburt der Tochter Sophie, benannt nach der Nichte von Freuds Hebräischlehrer am Gymnasium.
Freud gab an, ab 1893 zugunsten der Psychoanalyse auf die Sexualität verzichtet zu haben, denn diese »Wissenschaft« ergebe sich gerade aus der Sublimierung seiner Libido. Ein Brief an
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