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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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akuten Belastungen besser fertig als mit chronischen Stressoren, vor allem wenn Erstere abgelöst werden von einer ausreichend langen Phase der Erholung, in der die Stressoren ihrem Job als Informationsübermittler nachkommen können. Wenn ich beispielsweise einen heftigen emotionalen Schock erleide, weil aus meinem Klavier eine Schlange kriecht oder ein Vampir den Raum betritt, und wenn nach diesem Schock eine Phase beruhigender Sicherheit einsetzt (mit Kamillentee und Barockmusik), die so lang ist, dass ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle bekomme, dann wäre das für meine Gesundheit zuträglich – vorausgesetzt natürlich, ich werde mit der Schlange oder dem Vampir nach einem anstrengenden, hoffentlich heroischen Kampf fertig und mein heldenhafter Anblick neben dem erlegten Untier ist auf einem Foto festgehalten. Eine derartige Belastung wäre mit Sicherheit zuträglicher als der gelinde, dabei kontinuierliche Stress, der von einem Vorgesetzten ausgeht, von der Hypothek, von Steuerproblemen, von Schuldgefühlen, da man die Steuererklärung ständig vor sich herschiebt, von Prüfungsstress, Haushaltspflichten, zu beantwortenden E-Mails, auszufüllenden Formularen, dem täglichen Weg zur Arbeit – all den Dingen, die einem das Gefühl vermitteln, das Leben sei eine Falle, aus der es keinen Ausweg gibt. Mit anderen Worten, den Zwängen, die die Zivilisation mit sich bringt. Neurobiologen haben nachgewiesen, dass die erste Form von Belastung für die Gesundheit notwendig, die zweite dagegen schädlich ist. Um nachzuvollziehen, wie schädlich ein niedrigschwelliger Stressor ohne Erholung sein kann, denke man nur an die so genannte chinesische Wasserfolter: Kontinuierlich fällt ein Tropfen Wasser auf den Kopf des Opfers, ohne dass je die Möglichkeit besteht, sich davon zu erholen.
    Herkules besiegte die Hydra, indem er die Wunden ausbrannte, nachdem er ihre Köpfe abgeschlagen hatte. So verhinderte er, dass die Köpfe nachwuchsen und Antifragilität zum Tragen kam. Mit anderen Worten, er unterbrach die Erholungsphase.
    Tabelle 2 zeigt den Unterschied zwischen den beiden Typen. Zwischen dem Mechanischen und dem Organischen gibt es Übergangsstufen, im Großen und Ganzen lassen sich aber klare Zuordnungen vornehmen.
Tabelle 2 – Das Mechanische und das (biologisch oder nicht-biologisch) Organische
Das Mechanische,
Nicht-komplexe
Das Organische,
Komplexe
Benötigt ständige Wartung und
Reparaturen
Selbstheilung
Hasst Zufälligkeit
Liebt Zufälligkeit
(kleine Variationen)
Kein Erholungsbedarf
Braucht zwischen Belastungen
Erholungspausen
Keine oder nur geringe
Interdependenz
Hochgradig interdependent
Stressoren verursachen
Materialermüdung
Abwesenheit von Stressoren
verursacht Muskelschwund
Alterung durch Gebrauch
(»Wear and tear«)
Alterung aufgrund von Nicht-
Gebrauch *
Unterkompensation nach Schocks
Überkompensation nach Schocks
Vergehen der Zeit führt lediglich
zu Seneszenz
Vergehen der Zeit führt zu
Alterung und Seneszenz
* Nach der Lektüre dieses Kapitels schrieb mir Frano Barovi ć : »Maschinen: benutzen und verlieren (›Use it and lose it‹); Organismen: benutzen oder verlieren«. Außerdem: Alles Lebendige braucht Stressoren, aber nicht alle Maschinen müssen in Ruhe gelassen werden – ich komme auf diesen Punkt im Zusammenhang mit dem Ausglühvorgang bei Metallen noch zu sprechen.
    Der Leser erhält hier einen ersten Eindruck von dem zentralen Problem, welches entsteht, wenn sich in politischen (oder ähnlich komplexen) Systemen irgendeine Instanz von oben einmischt; in Buch II komme ich darauf zu sprechen. Der Fragilist verwechselt die Wirtschaft mit einer Waschmaschine, die monatlich gewartet werden muss, oder er hält die Eigenschaften eines menschlichen Organismus fälschlich für so etwas wie Mechanismen in einem CD -Player. Adam Smith selbst benutzte die Analogie zwischen der Wirtschaft und einer Uhr, die, ist sie einmal gestellt, allein weiterläuft. Ich bin allerdings sicher, dass das nicht die Kriterien sind, die für ihn leitend waren; er sah die Wirtschaft vielmehr als einen Organismus an, und es fehlte ihm lediglich das geeignete Begriffsgerüst, um das in Worte zu fassen. Smith verstand die Opakheit komplexer Systeme, er wusste, dass mit Wechselwirkungen gerechnet werden muss, immerhin stammt der Gedanke der »unsichtbaren Hand« ja von ihm.
    Im Unterschied zu Adam Smith hatte Platon das nicht so ganz verstanden. Er benutzte die bekannte Schiffsmetapher: Der Staat gleiche einem

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