Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Kalkulationskünste, sondern durch Stress und Belastung, über Hormone oder andere bislang noch nicht entdeckte Informationsträger. Ihre Knochen werden, wie gesagt, stärker, wenn sie beispielsweise während einer (kurzen) Tätigkeit in einer Klaviertransportfirma vermehrt der Schwerkraft ausgesetzt sind. Schwächer hingegen werden sie, wenn Sie die nächsten Weihnachtsferien in der Schwerelosigkeit einer Raumstation verbringen oder (was viele Menschen nicht wissen) wenn Sie viel Rad fahren. Sie bekommen Schwielen an den Händen, wenn Sie den Sommer auf einem Genossenschaftsbauernhof sowjetischer Machart verbringen. Ihre Haut wird heller im Winter und dunkler im Sommer (vor allem wenn Sie Vorfahren im Mittelmeerraum haben; sollten Ihre Vorfahren jedoch aus Irland oder Afrika oder anderen Orten mit gleichmäßigeren Wetterverhältnissen stammen, wird das eher nicht der Fall sein).
Irrtümer und ihre Folgen sind Information. Für ein Kleinkind, dessen logisches Denkvermögen noch nicht sehr ausgeprägt ist, ist Schmerz das einzige Informationssystem, das ihm vermittelt, wie es mit Risiken umzugehen hat. In komplexen Systemen dreht sich alles um Information. Und es gibt in unserer Umgebung sehr viel mehr Informationsträger, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Ich bezeichne diesen Umstand als kausale Opakheit: Es ist schwer, eine Verbindungslinie zwischen einer Ursache und einer Folge zu erkennen, konventionelle Analysemethoden und Standardlogik fallen also aus. Die Vorhersehbarkeit konkreter Ereignisse ist gering, und das liegt an dieser Opakheit. Auch aufgrund von Nichtlinearitäten ist ein anderer, schärferer Blick als bei herkömmlichen Systemen nötig – wir haben es dagegen mit Opakheit zu tun.
Abbildung 2. Hier kann man sehen, warum ich es so mit Knochen habe. Man trifft in traditionellen Gesellschaften in Indien, Afrika und in Mittel- und Südamerika auf die Sitte, Wasser oder Getreide auf dem Kopf zu transportieren. Ein levantinisches Liebeslied besingt sogar eine schöne Frau, die eine Amphore auf dem Kopf trägt. Die positiven Auswirkungen auf die Gesundheit könnten die Medikamente zur Aufrechterhaltung der Knochendichte um Längen hinter sich lassen – andererseits hätte eine solche Art der Therapie empfindliche Nebenwirkungen auf die Gewinne der Pharmaindustrie. [Copyright: Creative Commons]
Schauen wir uns die Sache mit den Knochen noch einmal näher an. Mein Interesse daran hatte zur Folge, dass ich mich auf das Heben von Gewichten konzentrierte, anstatt Fitnessgeräte zu benutzen. Meine Skelettbesessenheit nahm ihren Anfang, als ich im Jahr 2003 auf einen Aufsatz von Gerard Karsenty und Kollegen in der Zeitschrift Nature stieß. Bis dahin ging man davon aus, dass Alterungsprozesse Knochenschwäche verursachen (die Knochendichte geht zurück, die Knochen werden morsch), als läge hier eine eindeutige, hormonell verursachte Wirkungsrichtung von A nach B vor (bei Frauen tritt Osteoporose häufig nach den Wechseljahren auf). Karsenty und weitere Wissenschaftler, die sich diesem Ansatz anschlossen, fanden heraus, dass das Gegenteil ebenfalls in hohem Maße zutrifft: Rückgang der Knochendichte und Verringerung der Knochengesundheit können ihrerseits der Grund für Alterungsprozesse sein, für Diabetes und bei Männern für den Verlust der Fruchtbarkeit und Sexualfunktion. Man kann in einem komplexen System nicht irgendeine Kausalbeziehung isoliert betrachten. Des Weiteren zeigen diese Untersuchungen und das damit zusammenhängende Verkennen der Vernetztheit, dass das Ausbleiben von Belastung (hier die Auswirkung von Gewicht auf Knochen) Alterungsprozesse anstoßen kann: Wenn man stresshungrigen antifragilen Systemen Belastungen vorenthält, hat das ein hohes Ausmaß an Fragilität zur Folge, ein Umstand, den ich in Buch II auf politische Systeme übertragen werde. Lennys Trainingsmethode, die ich, wie im letzten Kapitel erwähnt, beobachtete und nachzumachen versuchte, diente offenbar neben der Muskelstärkung auch dazu, die Knochen zu beanspruchen und zu stärken – die Mechanismen waren ihm nicht bekannt, aber er hatte auf heuristischem Weg herausgefunden, dass Gewichtheben an seinem System etwas zum Positiven veränderte. Die Dame in Abbildung 2 ist, da sie ihr Leben lang Lasten auf dem Kopf transportiert hat, kerngesund und hat eine exzellente Haltung.
Unsere Antifragilität ist an Bedingungen geknüpft. Die Häufigkeit der Stressoren spielt eine gewisse Rolle. Menschen werden mit
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