Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Aspekt der Zufälligkeit komme. Wenn Sie keine Waschmaschine und keine Kuckucksuhr, also mit anderen Worten ganz lebendig sind, dann gibt es etwas tief in Ihrer Seele, das Gefallen findet an einem gewissen Maß an Zufälligkeit und Unordnung.
Mit der Zufälligkeit ist ein ganz bestimmter Kitzel verbunden. Wir mögen die gemäßigte (hochgradig domestizierte) Welt der Spiele, angefangen beim Zuschauersport bis hin zu den atemlosen Crap-Shoot-Runden in Las Vegas.
Während ich diese Zeilen schreibe, versuche ich so weit es geht die Tyrannei eines präzisen, ausgefeilten Plans zu vermeiden; ich schöpfe aus einer opaken Quelle in meinem Inneren, die immer neue Überraschungen hervorbringt. Schreiben lohnt sich nur, wenn es mich mit dem prickelnden Gefühl von Abenteuer erfüllt, weshalb ich es genieße, Bücher zu schreiben, und mit der Zwangsjacke von 750-Wörter-Kolumnen überhaupt nichts anfangen kann, die mich – sogar ohne die Besserwisserei des Redakteurs – zum Heulen langweilt. Übrigens langweilen Texte, bei deren Abfassung der Autor sich langweilte, auch den Leser.
Wenn ich morgens schon wüsste, wie mein Tag genau aussieht, käme ich mir ansatzweise tot vor.
Zufälligkeit ist unabdingbar für das wahre Leben. Man bedenke, dass mit allen Reichtümern der Welt keine Flüssigkeit erworben werden kann, die erquicklicher ist als Wasser nach intensivem Durst. Wenige Dinge erfreuen einen mehr als eine wiedergefundene Brieftasche (oder ein Laptop), die man im Zug verloren hatte. In der Welt unserer Vorfahren waren es natürliche Stimuli, die uns antrieben – Furcht, Hunger, Begehren. Sie zwangen uns, an unsere Grenzen zu gehen und uns an unsere Umgebung anzupassen.
Man bedenke nur, wie leicht es ist, die nötige Energie aufzubringen und ein Auto anzuheben, wenn ein schreiendes Kind darunter liegt, oder um sein Leben zu rennen, wenn ein wildes Tier auf einen zukommt. Man vergleiche das mit der Bürde eines festen Termins im Fitnessstudio um sechs Uhr abends und den Qualen durch den Personal Trainer – es sei denn, Sie stehen unter dem Zwang, sich das Aussehen eines Bodyguards zulegen zu müssen. Und wie leicht fällt es doch, eine Mahlzeit auszulassen, wenn die Umstände einen dazu zwingen, weil nichts zu essen da ist – im Vergleich zu der »Disziplin«, die es erfordert, sich an irgendeinen achtzehntägigen Diätplan zu halten.
Für manche Menschen stellt das Leben eine Art Projekt dar. Nach einer Unterhaltung mit ihnen fühlt man sich ein paar Stunden lang gar nicht gut, das Leben bekommt einen Geschmack wie eine Mahlzeit, bei der das Salz vergessen wurde. Ich, ein Mensch auf der Suche nach Nervenkitzel, besitze einen Bullshit-Detektor, der offenbar eng mit meinem Langeweile-Detektor gekoppelt ist – eine Art naturgegebenen Filter, einen Abscheu vor allem Dumpfen, Eintönigen. Im Leben unserer Vorfahren gab es keine Hausaufgaben, keinen Chef, keine Beamten, keine akademischen Titel, keine Unterredungen mit dem Dekan, keine Berater mit einem Magisterabschluss in Betriebswirtschaft, keinen Maßnahmenkatalog, kein Antragsformular, keine Trips nach New Jersey, keine grammatischen Erbsenzähler, keine Unterhaltung mit Menschen, die einen langweilen: Das ganze Leben bestand aus zufälligen Stimuli, und nichts, was einem widerfuhr, sei es gut oder schlecht, fühlte sich je wie Arbeit an. 15 Natürlich war es ein gefährliches Leben, niemals aber ein langweiliges.
Eine Umgebung mit einer gewissen Variabilität (also Zufälligkeit) erspart uns im Unterschied zu Systemen, die von Menschen entworfen wurden, die Schädigung durch chronischen Stress. Wenn man auf unebenem, nicht von Menschenhand bearbeitetem Terrain unterwegs ist, gleicht kein Schritt dem anderen – ganz anders das zufallsfreie Laufband im Fitnessstudio: Es zwingt dem Trainierenden eine endlose Wiederholung der immer gleichen Bewegung auf.
Ein Großteil des modernen Lebens besteht in vermeidbarer Schädigung durch chronischen Stress.
Im nächsten Kapitel wollen wir den Trick einer grandiosen Antifragilitäts-Expertin genauer anschauen: der Evolution.
13 Ein anderer Aspekt: Maschinen nehmen Schaden (aufgrund der Materialermüdung), wenn sie niedrigen Belastungen ausgesetzt sind, Organismen nehmen Schaden, wenn niedrige Belastungen ausbleiben (Hormesis).
14 Es handelt sich dabei um so genannte dissipative Strukturen; den Begriff prägte der Physiker Ilya Prigogine. Dissipative Strukturen unterscheiden sich markant von einfachen
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